ATME!: Thriller

ATME!: Thriller

by Judith Merchant
ATME!: Thriller

ATME!: Thriller

by Judith Merchant

eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

Du traust mir. Sie traut dir. Ich traue niemandem.
Nile hat endlich ihre große Liebe gefunden: Ben. Doch plötzlich verschwindet Ben spurlos. Und niemand will Nile bei der Suche helfen. Bis auf eine – seine Frau. Ihre ärgste Feindin. Judith Merchant inszeniert in diesem hochkarätigen Thriller ein so packendes wie raffiniertes psychologisches Vexierspiel voller doppelter Böden und verblüffender Wendungen.
Eben noch war Ben in der Boutique, in der Nile ein Kleid anprobierte, doch als sie aus der Umkleidekabine kommt, ist er verschwunden. Nile ist sich sicher: Es muss etwas Schreckliches passiert sein. Aber niemand will ihr glauben. Noch nicht mal seine engsten Freunde, die Nile sowieso für zu anhänglich halten. Also muss sie ausgerechnet ihre größte Feindin um Hilfe bitten: Flo, die Frau, mit der Ben noch verheiratet ist. Zu Niles Erstaunen ist diese sehr kooperativ. Doch dann entdecken die beiden Frauen immer mehr Ungereimtheiten in Bens Leben. Und die gemeinsam begonnene Suche entwickelt sich zu einer atemlosen Jagd, denn Nile realisiert: In diesem perfiden Spiel kann sie niemandem trauen. Schon gar nicht Flo.


Product Details

ISBN-13: 9783462320169
Publisher: Kiepenheuer & Witsch eBook
Publication date: 08/22/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 384
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Judith Merchant studierte Literaturwissenschaft und unterrichtet heute Creative Writing an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Für ihre Kurzgeschichten wurde sie zweimal mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Nach der Veröffentlichung ihrer Rheinkrimi-Serie (darunter »Nibelungenmord« und »Loreley singt nicht mehr«) zog Judith Merchant von der Idylle in die Großstadt. »ATME!« erschien 2019 bei Kiepenheuer & Witsch und wurde zum Bestseller.


Judith Merchant studierte Literaturwissenschaft und unterrichtet heute Creative Writing an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Für ihre Kurzgeschichten wurde sie zweimal mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Nach der Veröffentlichung ihrer Rheinkrimi-Serie (darunter »Nibelungenmord« und »Loreley singt nicht mehr«) zog Judith Merchant von der Idylle in die Großstadt. »ATME!« erschien 2019 bei Kiepenheuer & Witsch und wurde zum Bestseller.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

El sueño de la razón produce monstruos.

Francisco de Goya

Alle Menschen suchen Liebe.

Alle.

Und dabei ist Liebe so schwer zu finden.

Manche denken, dass man Liebe lernen kann. Dass man sie berechnen kann. Oder bestellen. Dass man an sich selber arbeiten muss. Oder am anderen. Dass man dafür sehr besonders sein muss. Oder so wie alle.

All das ist falsch. Das weiß ich. Denn das Einzige, was man wirklich braucht dafür, das ist der passende Andere. Es darf eben nicht der Andere sein. Es muss der Eine sein.

Der, der genau zu dir passt. Der, bei dem sie funktionieren, die ganzen verdammten Zaubersprüche. Der dich in den Arm nimmt und sagt: Hab keine Angst. Der zu dir unter die Decke schlüpft und sagt: Mach die Augen zu. Der nach deiner Hand greift und sagt: Wir schaffen das. Oder: Du bist schön. Oder: Alles wird gut.

Und alles stimmt, weil er es sagt.

Wenn du diesen Menschen gefunden hast, dann – hör zu, was ich dir sage! – dann musst du mit ihm zusammenbleiben.

Bleib bei ihm. Lass nicht zu, dass man euch trennt. Sei wachsam. Pass auf. Hüte dich vor einer zu abrupten Ampelschaltung, vor sperrigen Arbeitszeiten, hüte dich vor allem vor seiner Exfrau, am allermeisten aber vor dem Vorhang einer Umkleidekabine.

Halt ihn einfach fest, jede Sekunde.

Sonst kann es sein, dass du eines Tages auf der Straße stehst und begreifst, dass etwas Schreckliches geschehen ist.

So wie ich.

Vor mir lärmen Autos von links nach rechts, hupen, quietschen, stoßen stinkende Wolken aus. Eine Fußgängerampel blinkt hektisch, ich stehe auf dem Bürgersteig, Menschen laufen an mir vorbei. Hinter den Autos eine Buchhandlung, ein Friseur, zwei Cafés. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen, und der Schweiß läuft mir über das Gesicht, ich recke den Kopf. Nach links. Nach rechts. Wieder nach links.

Alles voller Menschen. Aber nicht er. Nur andere. Sie starren auf ihre Handys, schleppen volle Einkaufstüten, schwenken schlanke Handtaschen, sie ziehen Hunde, schieben Kinderwagen.

»Ben!«, rufe ich, so laut ich kann. »Ben!«

Niemand beachtet mich.

Ein Mensch ist verschwunden. Ein anderer sucht ihn. Eine Straße. Zwei Richtungen.

Finde den Fehler!

Man kann in die eine Richtung rennen oder in die andere. Nicht in beide gleichzeitig. Und wenn man sich falsch entscheidet, wenn man in die falsche Richtung läuft, dann entfernt sich der andere immer weiter.

Entscheidungen.

Entscheidungen zu treffen ist so schwer.

Nichts von allem ist geplant gewesen an diesem Dienstag.

Nicht, dass Ben spontan Überstunden abfeiert und deswegen schon mittags freimacht.

Nicht, dass ich die langweilige Übersetzung eines Geschäftsberichts liegenlasse und ihn von der Arbeit abhole, auch wenn das natürlich naheliegt.

Nicht, dass wir in die Stadt fahren und in einer Pizzeria das Mittagsmenü bestellen, dass wir danach auf dem Marktplatz ein Eis essen, er Malaga und Haselnuss, ich Schokolade.

Nicht, dass wir danach durch diese Straße gehen und im Schaufenster dieses viel zu teuren Ladens dieses viel zu teure Kleid entdecken.

Nichts davon ist geplant gewesen.

Es ist alles einfach so passiert.

Und darum trete ich in diesem viel zu teuren Laden aus der Umkleidekabine und starre ungläubig in den Spiegel.

Das Kleid hat ganz kleine angeschnittene Ärmel und geht bis zum Schlüsselbein – entzückende Schlüsselbeine, sagt er immer, wenn ich dich mal identifizieren müsste, ichwürde dich an deinen Schlüsselbeinen erkennen. Oder: Wenn es »Wetten, dass..?« noch gäbe, könnten wir uns anmelden, ich würde dich unter Tausenden herausfinden –, aber weil der graue Spitzenstoff ganz leicht durchbrochen ist, kann man durchgucken, zumindest bis auf das Unterkleid. Himmel, ein Unterkleid! Das gibt es doch nur in Filmen, oder?

Ich bin eigentlich nicht so der Typ für Kleider. Um ehrlich zu sein, das ist mein erstes Kleid seit zehn Jahren. Und es ist perfekt. Einfach perfekt.

Die Verkäuferin tritt zu mir und nickt anerkennend. »Steht Ihnen wunderbar«, sagt sie, »wirklich, Sie können das tragen mit Ihrer Taille. Am besten mit Pumps, klassische würde ich nehmen, dann sieht das noch mal ganz anders aus.« Ihr Blick streift die Turnschuhe, in denen meine sonnenverbrannten Beine stecken.

Ich gebe nichts auf ihr Urteil. Der einzige Mensch, an dessen Meinung mir etwas liegt, sitzt um die Ecke auf dem Sessel und blättert vermutlich in einer Zeitschrift. Umso besser, denn wenn er mich jetzt noch nicht sieht in dem Kleid, dann kann ich ihn später damit überraschen. Ben mag Überraschungen. Ganz anders als ich, ich hasse sie. Da sind wir sehr verschieden, wie bei manchem.

Soll ich es schnell ausziehen und einfach kaufen? Oder Ben doch rufen?

Die Verkäuferin interpretiert mein Zögern falsch. »Wir haben das auch noch in Mitternachtsblau. Soll ich Ihnen das mal holen? Das ist dann etwas edler. Ich weiß ja nicht, für welchen Anlass suchen Sie denn?«

Darauf muss ich jetzt wohl antworten. Ich sage: »Es ist für eine Hochzeit.« »Ach, wie schön«, sagt die Verkäuferin. »Dann muss man natürlich bedenken, welcher Dresscode gewünscht ist.«

»Es gibt keinen Dresscode«, sage ich und gehe zurück in die Kabine.

Die Verkäuferin ruft. »Wissen Sie denn, was die Braut trägt? Lang oder kurz? Man sollte ja immer das Gegenteil wählen.«

»Die Braut trägt dieses Kleid hier«, sage ich, aber das hört die Verkäuferin nicht mehr, also betrachte ich mich noch einmal im Spiegel.

Das Unterkleid schimmert durch den Spitzenstoff. Ich habe wirklich eine ganz schmale Taille in dem Kleid, meine Arme sind stark und sonnenverbrannt, und meine Nase pellt sich, auf der Stirn habe ich einen winzigen Pickel, im linken Mundwinkel Reste von Schokoladeneis. In meine Augen malt das Licht der Umkleidekabine einen weißen Fleck, und plötzlich verzieht sich mein ganzes Gesicht und ich strahle.

Vermutlich ist es ein Prinzessinnenmoment wie im Film. Ich fand Prinzessinnenmomente bisher immer armselig, aber sie waren auch immer für andere, nicht für mich.

Ich stehe da und strahle mein eigenes Spiegelbild an, das Spiegelbild strahlt zurück. Und weiß noch nicht, was in wenigen Minuten passieren wird. Ich habe keine Ahnung, nicht mal ein unbehagliches Gefühl, dafür bin ich viel zu glücklich und viel zu sicher und viel zu verliebt.

Dann rufe ich doch nach ihm.

»Ben«, rufe ich.

Aber er kommt nicht, und die Verkäuferin kommt auch nicht. Stattdessen wird der Vorhang der Kabine beiseitegerissen, und eine Frau steht vor mir. »Oh, Entschuldigung!«, ruft sie erschrocken und starrt mich an. Und dann erst realisiere ich, dass sie das gleiche Kleid trägt wie ich. Aber sonst sieht sie ganz anders aus, sie ist schmal und blond und elegant, eins ihrer schlanken glänzenden Beine ist kunstvoll mit einem pinken Tape verziert, vermutlich eine Sportverletzung. Und sie trägt Pumps, die zum Kleid passen.

Ich starre sie an, sie starrt mich an, und wir brechen beide in Gelächter aus, ein Gelächter, das sagt: So gleich! Und so verschieden! Dann verschwindet sie so schnell, wie sie gekommen ist, und zieht dabei den Vorhang wieder zu.

Ich lache immer noch und möchte gar nicht aufhören, mich im Spiegel zu betrachten, weil ich so glücklich bin, weil alles so gut ist.

Und ich denke: Wir sollten viel öfter auswärts zu Mittag essen. Wir sollten viel öfter zusammen Schaufenster angucken. Vielleicht sollte ich sogar viel öfter Kleider tragen.

Jetzt können wir das ja machen. Denn jetzt ist endlich alles gut. Jetzt ist endlich Zeit für unser Happy End!

Ein bisschen wundere ich mich, dass Ben noch nicht gekommen ist, um zu sehen, wie ich in dem Kleid aussehe. Das passt eigentlich nicht zu ihm.

Ich ziehe den Vorhang zur Seite und dränge mich aus der Kabine.

Weil ich keine Angst habe.

Weil ich nicht weiß, was mich erwartet.

Mein Name ist ein Fluch.

»Ich heiße Nile.«

»Freut mich, Nele!«

»Nein, Nile.«

»Nele?«

»NIIILE.«

»Sag ich doch. NELE.«

Mein Name ist so etwas wie eine Allegorie auf mich. Jeder versteht mich falsch. Jeder glaubt zu wissen, wer ich bin, aber sie alle täuschen sich.

Mit Ben war das anders.

»Ich bin Nile«, sagte ich zu ihm und sah ihn an, ohne ihn zu sehen. Und er sagte: »Nile. Ich heiße Ben.« Und dann sah ich ihn.

Später sprachen wir darüber.

Das war drei Wochen nach unserem Kennenlernen. Also drei Wochen, nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Denn darum war es zuerst gegangen, zumindest taten wir so, als ob es darum ginge, aber eigentlich war da schon klar, dass es um etwas ganz anderes geht. Dass es um alles geht.

Drei Wochen danach also sagte ich es ihm.

»Du warst der Erste«, sagte ich, als ich bäuchlings neben ihm lag, die Augen geschlossen.

»Ja klar«, sagte er.

»Nein, im Ernst.«

Er pustete vorsichtig auf meinen Oberarm. »Du denkst jetzt nicht echt, dass ich dir das abnehme, oder?«

»Doch, du warst der Erste«, sagte ich schläfrig.

Das Laken roch nach uns. Ich hätte die Bettwäsche dringend mal waschen müssen, aber immer, wenn ich das vorhatte, stieg mir dieser Geruch in die Nase, und ich zögerte. Zögerte deswegen, weil ich ihn behalten wollte. Zögerte, weil ich damit einen faktischen Beweis für das hatte, was sich in den letzten drei Wochen zwischen uns abgespielt hatte. Zögerte vielleicht auch, weil ich Angst hatte, dass er möglicherweise nicht mehr wiederkommen würde, um dieses Zimmer mit seinem Geruch zu füllen.

»Erzähl«, sagte er.

Das sagt er immer. Egal, worüber wir sprechen, er hat eine ganz eigenartige Art, unkonkret nachzufragen. Die meisten Menschen fragen gezielt, sie fragen entweder Details ab, oder sie fragen nach dem Motiv. Andere sind stumpf oder schüchtern und fragen gar nicht. Und Ben sagt immer: »Erzähl.« Und wenn er das sagt, hole ich Luft und rede. Ich habe noch nie zuvor so viel geredet wie mit ihm. Ich rede sonst eigentlich sehr wenig.

»Mein Name«, sagte ich. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemals erlebt, dass jemand auf Anhieb meinen Namen richtig verstanden hat, noch nie. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist. Jeder versteht ihn falsch, einfach jeder. Ich sage: ›Niiile‹, mit drei ›i‹. Und die Leute verstehen ›Nele‹. Und dann sage ich: ›Nein, Nile, nicht Nele‹, und sie fragen: ›Wie? Wie heißt du?‹ Es kann ja niemand etwas dafür. Aber es ist einfach so. Wie ein Stolperstein direkt vor meiner Haustür. Ein holpriger Einstieg, immer und überall. Und wenn die Menschen meinen Namen nicht hören, sondern geschrieben sehen, dann halten sie ihn meistens für einen Tippfehler. Manche korrigieren eigenmächtig, einige fragen nach. Manchmal kommt es vor, dass Kunden mich richtig ansprechen, weil wir vorher Mailkontakt hatten. Aber dass jemand meinen Namen sofort richtig ausspricht, ohne ihn vorher gelesen zu haben, das hat es echt noch nie gegeben. Bis zu dem Tag, als du kamst.«

Ich machte eine Pause.

»Erzähl weiter«, sagte er. Seine Augen waren auf mich gerichtet, und ich wusste, dass er jede Regung an mir wahrnahm, dass seine ganze Aufmerksamkeit mir galt, jedem Wort, jedem Zögern, jeder Bewegung.

Ich drehte mich vom Bauch auf die Seite, damit ich ihn besser betrachten konnte. »Es ist schon komisch, dass ausgerechnet du es warst, der meinen Namen verstanden hat. Und jetzt liegen wir hier. Das ist so ... so kitschig.«

Er pustete noch einmal auf meinen Oberarm, aber langsamer diesmal, ein warmer Luftstrom, so warm wie seine Mundhöhle. »Na und?«, sagte er. Und pustete noch einmal.

Ich schloss die Augen. »So, als ob du mich sofort verstanden hättest. Es ist wie in einem Märchen, in dem die arme Prinzessin wartet, dass ein Königssohn kommt und ihr den richtigen Namen gibt, damit der böse Fluch gebannt ist und sie endlich frei und glücklich sein kann.« Ich drückte mein Gesicht tiefer ins Kissen. Ben sollte nicht sehen, dass meine Augen nass wurden. Er wusste nicht, wie sehr ich auf ihn gewartet hatte. Und wie schlimm es vorher gewesen war.

Ben strich mir über den Rücken, ganz langsam, als überlegte er, wohin er als Nächstes fassen solle. »Rumpelstilzchen«, sagte er. »Das passende Märchen in Sachen Namensgebung wäre Rumpelstilzchen. Aber ich weiß nicht, ob das ein Kompliment für dich ist, wie Rumpelstilzchen siehst du Gott sei Dank nicht aus. Die Version mit der Prinzessin passt besser zu dir.«

Ich sprach ins Kissen, leise und verwaschen, aber ich wusste, dass er mich hört. »Mir macht es nichts aus, wie Rumpelstilzchen auszusehen, solange du den Part mit dem Namen richtig machst und mich erlöst.«

»Aber Rumpelstilzchen wollte gar nicht, dass man seinen Namen kennt, oder?«

»Keine Ahnung«, sagte ich.

»Ich bin mir sicher, Rumpelstilzchen wollte das nicht. Außerdem war Rumpelstilzchen böse. Wir sind also unsere eigene Version vom Namensmärchen.«

»Das ist gut«, sagte ich. »Wobei ich eigentlich ganz gern wie Rumpelstilzchen aussehen würde, irgendwie stelle ich mir das sehr entlastend vor.«

»Rumpelstilzchen«, flüsterte Ben in mein Ohr und küsste mich knapp darunter.

»Mh.«

»Darf ich dich jetzt ganz doll enttäuschen, Rumpelstilzchen?«

»Oh.« Ich blickte in Richtung Uhr, aber ich sah nur Ben und die Decke. »Musst du etwa schon los?«

»Nein. Aber ich muss die Sache mit dem Namen aufklären, bevor du unser Märchenschloss auf ein falsches Fundament baust und nachher schrecklich wütend auf mich bist, wenn du die fiese Wahrheit erfährst.«

»Die fiese Wahrheit«, sagte ich, drehte mich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, seine Augen folgten jeder Bewegung. »Raus mit der fiesen Wahrheit. Du kanntest meinen Namen schon?« Bei dem Gedanken breitete sich die Enttäuschung in mir aus wie eine Lache. Das war total albern. Noch während ich sie spürte, schalt ich mich dafür.

»Nein.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Puh. Dann kannst du mich gar nicht enttäuschen.«

»Warte mal ab.« Er rieb sich die Nasenwurzel, als müsste er die Worte von dort hervorlocken. Das macht er oft. »Die Wahrheit ist: Ich mache seit zwölf Jahren Vertrieb. Das heißt nichts anderes, als dass ich bei allen potenziellen Kunden in der ersten Sekunde schon einen guten Eindruck machen muss. Sie müssen sich sofort wohlfühlen. Und darum ist mein wichtigster Trumpf der Name. Nicht, wie er geschrieben wird, sondern, wie er ausgesprochen wird. Während ich jemanden das erste Mal begrüße, läuft bei mir unter höchstem Stress ein akustisches Silbenerkennungsprogramm ab. Ich speichere das Gehörte und spreche es nach, wie ein Papagei. Und dann sind die Leute total glücklich und dankbar. Und schon hab ich sie gewonnen.«

»Das reicht?«

»Im Grunde schon. Ich lächle dazu wie irre. Und damit ist eigentlich die Hälfte meines Jobs schon getan, zumindest bei den Leuten, die nicht Stefanie oder Michael heißen. Der Rest ist dann Kür.«

»Und ich war eine potenzielle Kundin?«

»Sozusagen, ja.«

»Oh mein Gott«, sagte ich und barg mein Gesicht an seiner Schulter. Sie roch nach mir. Sie roch mehr nach mir als nach ihm. »Das ist eine furchtbar billige Erklärung für etwas, was mir wie ein ganz besonders kostbares Wunder vorkam.«

»Ich find's auch schrecklich«, sagte Ben und küsste mich sehr langsam und sehr nass. »Weil, wenn dich diese simple Sache so beeindruckt hat, bedeutet das ja, dass dich jeder x-beliebige andere Kerl, der so arbeitet wie ich und einen zweisilbigen Namen fehlerfrei ausspricht, auch hätte abgreifen können. Bin ich froh, dass es nicht so gekommen ist!«

»Das liegt wohl daran, dass es in meiner Welt normalerweise keine durchtriebenen Vertriebler gibt. Meine Welt ist sehr, sehr klein. Da kommen nicht viele rein.«

Ben nahm vorsichtig mein Gesicht in die Hände, um seinen linken Mundwinkel zuckte etwas, das er nicht unterdrücken konnte, es breitete sich auf seinen rechten Mundwinkel aus, dann explodierten beide Mundwinkel gemeinsam zu einem Lächeln, zu dem schönsten Lächeln, das es gab auf der ganzen Welt. Er sagte sehr leise: »Was für ein Glück, Nile. Oder?«

»Ja«, sagte ich. »Was für ein Glück, Ben.«

Und weil wir im Bett lagen und weil wir dumm waren, klopften wir nicht auf Holz.

Zuerst begreife ich gar nicht, dass er weg ist.

Nur, dass ich ihn nicht sehe.

Es ist ein kleiner Laden, L-förmig. Auf der rechten Seite ist die Eingangstür, gegenüber die Kasse. Links zieht sich der Raum lang nach hinten, dort befinden sich die Umkleidekabinen. An den Wänden hängen Kleider, Blusen, Oberteile auf Bügeln, sehr wenige Sachen. Es ist eben ein teurer Laden.

Zwischen Eingang und Tür steht ein hellgrauer Ledersessel. Vermutlich steht er dort, damit die Begleitungen der aufgeregten Kundinnen träge und friedlich darin versinken und sich nicht mehr rühren.

Dort hat Ben gesessen.

Oder denke ich das nur, weil da ein Sessel steht und er mir nicht zur Umkleidekabine gefolgt ist?

Der Raum ist leer. Mein Blick geht nach links und rechts. »Ben?«, rufe ich, dann gehe ich zurück zu den zwei Umkleidekabinen, beide mit geöffneten Vorhängen, in der einen meine Klamotten, ein schlaffer Haufen in Jeansblau und Schwarz, die andere ist leer. Anscheinend ist die Kundin mit meinem Kleid schon wieder weg.

»Ben?«, rufe ich noch einmal.

Die Verkäuferin schaut durch die Türöffnung hinter der Ladentheke, sie hat ein Telefon am Ohr.

»Ben?«

Dann gehe ich mit drei großen Schritten zur Tür, es bimmelt, als ich sie öffne und hinaustrete, ich gucke, ob er vielleicht vor der Tür steht und raucht, dabei raucht er gar nicht. Kein Ben. Nur Autos, die vorbeirauschen.

»Ist etwas?«, sagt mit leisem Erstaunen die Verkäuferin, als sie zu mir auf die Straße tritt.

»Wo ist mein Mann?«, frage ich.

(Continues…)


Excerpted from "Atme!"
by .
Copyright © 2019 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.
Excerpted by permission of Kiepenheuer & Witsch.
All rights reserved. No part of this excerpt may be reproduced or reprinted without permission in writing from the publisher.
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Table of Contents

Motto,
Alle Menschen suchen Liebe,
So wie ich,
Nichts von allem ist geplant,
Mein Name ist ein Fluch,
Zuerst begreife ich gar nicht ...,
Den Lotospalast betraten wir, weil ...,
Ich ringe nach Atem ...,
Ben geht immer an sein Handy,
Ich erwache um sechs,
Sie ist bestimmt zu Hause,
Ich hasse das Wort Verantwortung,
Das muss etwa zwei Monate ...,
Als ich das blaue Haus ...,
Wir sitzen in ihrer Küche ...,
Das blaue Haus zu verlassen ...,
Ich habe mich in die ...,
Markus besitzt einen Fahrradladen,
Du bist ein Reh ...,
Er heißt Jäger, Dr. Peter Jäger,
Selbstverständlich ist Ben nicht auf ...,
Als Kind war ich sehr verschlossen,
Immerhin eins hat das Gespräch ...,
Seit einer Stunde sitze ich ...,
Ich mag keine Monster,
Der Geruch von Ben ist ...,
Was habe ich getan?,
Ich würde alles für dich tun,
Ich gehe an der zusammengekauerten ...,
Das Tolle an Selbstverteidigung ist ...,
Flo redet wie aufgezogen,
Es war eine relativ brutale ...,
Ich bin mir in der ...,
Ich vertraue Ben,
Ich gehe zu Flo in ...,
Flo sitzt mir gegenüber und ...,
Sie sieht es ein,
Ich habe meine Turnschuhe angezogen ...,
Claus,
Atme, Nile!,
Ich versuche, in die Küche ...,
Eine Panikattacke hört auf,
Ich liege auf meinem Kissen ...,
Ben ist niemand, der Dinge ...,
»Oh, Nile«, sagt Flo ...,
Claus ist tot,
Ich muss mich sortieren,
Es führen sehr breite Treppenstufen ...,
Ich bin eine Spezialistin im Warten,
Maren,
Ich fliege zu ihr,
Ich weiß, wo sie wohnt,
Auch oben ist es hell,
Das kann nicht sein,
Zuerst fällt mir das Messer ...,
Claus steht am Fenster und ...,
Ich bekomme so wenig Luft,
Durch das Garagentor höre ich ...,
Monster,
Willst du wissen, wie Monster ...,
Jetzt weiß ich, was geschehen ist,
Atme, Nile,
Es funktioniert,
Die Stimme von Ben vertreibt ...,
Ich atme,
Ich öffne die Augen,
Ich renne fort,

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