Die irischen Schwestern

Die irischen Schwestern

by Tamera Alexander
Die irischen Schwestern

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by Tamera Alexander

eBook

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Overview

Carnton Plantage, Franklin, 1866: Catriona O´Toole und ihre Schwester Nora haben die grüne Insel hinter sich gelassen, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Sie wollen zu ihrem Bruder, der bereits vor einigen Jahren ausgewandert ist. Doch auf der Südstaaten-Plantage Carnton verliert sich dessen Spur. Als die Geldscheine, die ihr Bruder ihnen geschickt hatte, sich dann auch noch als Fälschungen herausstellen, überschlagen sich die Ereignisse: Die beiden Schwestern geraten in das Visier von Regierungsagenten und stehen plötzlich völlig mittellos da. Ihnen bleibt keine andere Wahl, als um Aufnahme in Carnton zu bitten. Zu ihrem Glück meint es der neue Aufseher Wade Cunningham gut mit ihnen. Er fühlt sich zu der temperamentvollen irischen Schönheit Catriona hingezogen, doch sie geht auf Abstand. Ihr Instinkt sagt ihr, dass dieser Mann nicht der ist, der er zu sein vorgibt ... Die Aufbruchszeit nach dem Ende des Bürgerkriegs und das Los ehemaliger Sklaven bilden den historischen Hintergrund dieser facettenreichen Liebesgeschichte.

Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

Product Details

ISBN-13: 9783963628870
Publisher: Francke-Buch
Publication date: 01/01/2021
Sold by: CIANDO
Format: eBook
Pages: 527
File size: 1 MB
Language: German

About the Author

Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

Read an Excerpt

Kapitel 1 16. März 1866 Franklin, Tennessee 35 km südlich von Nashville Catriona hielt ihre jüngere Schwester am Arm fest, denn sie wusste ganz genau, dass sie ihren Griff nicht lockern durfte, solange sie von solchen verführerischen Anblicken umgeben waren. Ausnahmsweise könnte sie nun Nora fast alles kaufen, was sich ein siebenjähriges Mädchen in einem Gemischtwarenladen wünschte. Aber sie war den größten Teil ihres Lebens gezwungen gewesen, sehr sparsam zu sein und auf vieles zu verzichten. Selten hatte sie den Luxus eines vollen Bauchs, geschweige denn einer vollen Speisekammer gekannt. Deshalb konnte sie nicht einmal das dicke Bündel Geldscheine, das Ryan der Familie nach Irland geschickt hatte, verleiten, ihr genügsames Naturell aufzugeben und sich etwas Extravagantes zu leisten. Solange ihre Zukunft so ungewiss war, war das unmöglich. »Lass meinen Mantel los, Cattie!« Nora zerrte kräftig und schaute sie mit einem finsteren Stirnrunzeln an. »Ich möchte sie mir nur genauer ansehen.« »Genauer ansehen, sagst du!« Catriona bemühte sich, leise zu sprechen, um in dem Gemischtwarenladen, in dem noch mehrere andere Kunden waren, kein Aufsehen zu erregen. Der Mann hinter der Verkaufstheke verfolgte sowieso schon jede ihrer Bewegungen. Es war wohl der Ladenbesitzer, jedenfalls schloss sie das aus seinem offensichtlichen Misstrauen und der Autorität, die er ausstrahlte. Vermutlich hatten die Ladenbesitzer in der Kleinstadt Franklin eine genauso schlechte Meinung von Iren wie ihre Kollegen in Nashville. Sie hatten auch die gleichen Schilder an der Eingangstür hängen: »Irische Arbeitskräfte unerwünscht«. Aber das andere Schild an der Tür störte sie noch mehr: »Zutritt für Freigelassene verboten«. Das Wort Freigelassene war durchgestrichen worden und ein anderes Wort, ein Schimpfwort, dem sie immer wieder begegnete, seit sie in New York City an Land gegangen waren, war ins Holz geritzt. Das war also die herzliche Begrüßung in Amerika … und in Franklin, Tennessee! Sie zog ihre Schwester enger an sich heran, da sie merkte, dass andere Kunden bereits in ihre Richtung blickten. »Kind, ich weiß genau, was es heißt, wenn du dir etwas genauer ansiehst.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Du willst dir diese Puppe nicht genauer ansehen. Genauso wenig wie ich noch einmal drei Tage umgeben von Ruß und Asche Zug fahren will.« Noras einzige Reaktion war ein erneutes kräftiges Zerren in Richtung der Porzellanpuppe, die in einem viel zu niedrigen Regalfach an einer Vase lehnte. Das entschlossene Mädchen hatte überraschend viel Kraft. Noras hitziges Temperament entsprach ihrem feuerroten Haar. Aber Catriona ließ nicht locker. Sie hatte zwar nicht die leuchtend roten irischen Locken ihrer Schwester – ihr kastanienbraunes Haar war um einiges dunkler –, aber ihr Temperament stand Noras in nichts nach. »Nora Emmaline O’Toole, sei nicht so starrköpfig!«, zischte sie zähneknirschend. »Benimm dich jetzt! Sonst kannst du dich auf etwas gefasst machen, wenn wir wieder draußen sind. Hast du mich verstanden?« Nora schaute finster zu ihr hinauf. Ihr schlankes Kinn war energisch vorgeschoben. Nicht zum ersten Mal fühlte sich Catriona eher wie eine Mutter als wie eine ältere Schwester. Bei ihrem Altersunterschied von 17 Jahren war das aber auch kein Wunder. Dieses Gefühl jagte ihr große Angst ein. Denn sie war keine Mutter. Eine Schwester? Mit dieser Rolle war sie bestens vertraut. Aber sie hatte den starken Verdacht, dass Nora viel mehr brauchte, als sie ihr geben konnte. Das Mädchen hatte auch viel mehr verdient. Aber eines wusste Catriona ganz genau: Die Erfahrung hatte sie gelehrt, ihre Schwester nicht loszulassen, da der quirlige Wildfang sonst anfangen würde, das zu tun, was er wollte, und nicht das, was man ihm sagte. Das hatte sie auf der Überfahrt aus Irland zur Genüge erlebt. Bei der Erinnerung, was beinahe passiert wäre, lief Catriona ein Schauer über den Rücken. Sie hatte Nora in jener Nacht fest an sich gedrückt und war so dankbar gewesen, dass ihrer kleinen Schwester auf dem dunklen Schiffsgang nichts Schlimmeres passiert war. Sie war so froh gewesen, dass Ryan darauf bestanden hatte, sie den Umgang mit dem Dolch zu lehren, den er ihr gegeben hatte, bevor er mit seinen drei besten Freunden nach Amerika aufgebrochen war. Aber so erleichtert sie auch gewesen war, als sie unversehrt in ihre Kabine zurückkehren konnten, hätte sie Nora trotzdem am liebsten geschüttelt, weil sie ihr eine solche Angst eingejagt hatte. Allein die Erinnerung an diesen Vorfall entfachte ihren Zorn und ihr Magen zog sich zusammen. Catriona marschierte entschlossen in Richtung der getrockneten Lebensmittel weiter und zog ihre Schwester halb hinter sich her. Aufgrund der vielen Kunden im Gemischtwarenladen kam sie nur langsam voran. Sie würde die wenigen Lebensmittel, die sie brauchten, kaufen und den überfüllten Laden so schnell wie möglich verlassen, bevor Nora etwas anstellen konnte. Aber sie war nicht sonderlich erpicht darauf, sich ihrer nächsten Aufgabe hier in Franklin zu stellen. Seit sie vor über einem Monat auf dieses Schiff gegangen waren, wuchs ihr Grauen davor jeden Tag mehr. Falls es irgendeine Möglichkeit gäbe, den Besuch bei Oberst John McGavock zu vermeiden, würde sie das liebend gern tun. Aber in Ryans letztem Brief hatte ihr Zwillingsbruder, für den die Familienehre sehr wichtig war, geschrieben, dass er den Mann zur Rede stellen wollte, dessen Großvater die O’Tooles vor vielen Jahren um das Land ihrer Familie betrogen hatte. Warum er sich gezwungen fühlte, nach so vielen Jahren diese Rechnung zu begleichen, wusste sie nicht. Doch falls es Ryan gelungen sein sollte, bis zu John McGavock vorzudringen, könnte ihr dieser Mann vielleicht sagen, wo sich ihr Bruder jetzt aufhielt. Diese Informationen brauchte sie dringend. Denn Ryans letzter Brief, der am 29. November 1864 abgestempelt war, war schon über ein Jahr alt und sie hatten seitdem nichts mehr von ihm gehört. Dieser letzte Brief war über fünf Monate unterwegs gewesen, bis er seinen Weg nach Irland gefunden hatte, wo er nur wenige Wochen vor dem Päckchen mit den Geldscheinen eingetroffen war. Dieses Geld sollte genügen, um die Familie nach Amerika zu bringen und hier neu anzufangen, hatte Ryan auf einen Zettel geschrieben, den er zwischen die Geldscheine geschoben hatte. Versteck das Geld vor Vater. Lass nicht zu, dass er davon Schnaps kauft. Kommt, so bald Ihr könnt. Dann kann sich mein Herz wieder vollständig fühlen. Dein dich immer liebender Bruder. Catriona konnte es nicht erwarten, ihn zu sehen, ihren kleinen Bruder, der fünf Minuten nach ihr auf die Welt gekommen war. Er war einen Kopf größer als sie und hatte Schultern so breit wie ein Türrahmen. Sie war so bald wie möglich nach Amerika gekommen. Aber wie sollte sie die Worte finden, um ihm die grausame Wende zu erklären, die ihr Leben in den letzten Monaten genommen hatte? Vater war der Ruhr als Erster zum Opfer gefallen. Das hatte sie Ryan irgendwann im letzten Sommer mit mehr Erleichterung als irgendwelchen anderen Gefühlen geschrieben. Aber die Ereignisse, die danach gefolgt waren, waren zu schmerzhaft, um sie ihm in einem Brief mitzuteilen. Einen Monat nach Vaters Tod, als sie alles für die Überfahrt nach Amerika vorbereitet hatten, hatten sich Mama, Bridget und Alma mit der gleichen verheerenden Krankheit angesteckt. Bridget und Alma waren sehr schnell aus diesem Leben geschieden. Nach nur 18 Tagen. Aber Mama … Mama war trotz Catrionas Pflege und trotz ihrer Gebete wochenlang dahingesiecht. Bridget und Alma, die erst zwölf und zehn gewesen waren, waren am selben Tag gestorben. Sie waren sich im Tod genauso nahe gewesen wie in ihrem Leben. Aus diesem Grund hatte sie beschlossen, sie gemeinsam zu beerdigen. Die Hälfte ihres Herzens war mit ihnen in die Erde gelegt worden. Die andere Hälfte war zusammen mit Mama beerdigt worden. In den Tagen danach hatte sie, von der Pflege und Trauer geschwächt und erschöpft, selbst krank im Bett gelegen. Nora, die Jüngste und Kräftigste von ihnen allen, hatte als Einzige nie eine Spur von der Krankheit gezeigt. Jetzt waren Nora und sie endlich hier. In Amerika. Aber wo war Ryan? Hatte er ihren letzten Brief, in dem sie ihm von Vaters Tod berichtet hatte, überhaupt erhalten? Falls er ihn bekommen hatte, hatte er ihnen nie geantwortet. Vielleicht hatte er einen getrennten Brief mit Anweisungen, wo sie ihn hier in Amerika treffen sollten, geschrieben. Aber einen solchen Brief hatte sie nie bekommen. Vielleicht war er eingetroffen, nachdem sie und Nora in Dublin abgefahren waren. Wie sollten sie sich in diesem weiten, vom Krieg zerrissenen Land ohne fremde Hilfe je finden? Ob es ihr gefiel oder nicht – und es gefiel ihr nicht! –, schien Oberst John McGavock ihre einzige Hoffnung zu sein. Sie versuchte die Angst, die sie innerlich quälte, wegzuschieben, genauso wie die Frage, die ihr Tag und Nacht keine Ruhe ließ: Lebte Ryan noch? Sie hatte gehört, dass manche Mütter fühlten, wenn ihre Kinder gestorben waren, aber sie hatte nie gehört, dass eine Schwester den Tod ihres Bruders ahnte. Auch nicht, wenn sie Zwillinge waren. Aber falls das möglich sein sollte, hätte sie es sicher gefühlt, wenn Ryan gestorben wäre. Sie waren als Kinder unzertrennlich gewesen. Sie hatte ihn ihr Leben lang geliebt. Ab dem Moment, als Vater angefangen hatte, ihn zu schlagen, hätte sie ihr Leben für seines gegeben. Deshalb würde sie es bestimmt wissen, wenn Ryan gestorben wäre. Das würde sie in ihrem Herzen fühlen. Aber sie fühlte nichts dergleichen. Das musste bedeuten, dass er noch lebte. Und wenn sie ihn erst einmal ausfindig machte – und das würde sie! –, würden sie zu dritt einen Weg in die Zukunft finden. Gemeinsam. Sie würde das Versprechen, das sie Mama gegeben hatte, ihren »kleinen Jungen« zu finden, einlösen und sie würden ein neues Leben anfangen, genau wie Ryan es gesagt hatte. Dann würde alles besser werden. Er konnte mit Nora so gut umgehen. Er könnte ihre kleine Schwester ins Land der Lebendigen zurückholen wie kein anderer. Nora hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Ryan von all ihren Geschwistern am liebsten hatte. Die Familie McGavock hatte zwar ihr Familienerbe gestohlen, aber wenn es ihr helfen würde, ihren Bruder zu finden, würde sie sich trotzdem demütigen und sie um ihre Hilfe bitten. Dann würde sie … Irgendwie gelang es Nora, sich von ihr loszureißen. Catriona fuhr herum, um ihre Schwester sofort wieder an die Hand zu nehmen, aber sie war ihr bereits entwischt. Die nächsten Sekunden schienen ewig zu dauern. Nora drehte sich um und machte einen Satz auf die Puppe zu. Sie bekam ihren Rocksaum zu fassen. Leider stieß sie dabei gegen das Regal. Einen Herzschlag lang wackelten sowohl die Vase als auch die Porzellanpuppe, die eine Südstaatenschönheit darstellte. Die blonden Locken der Puppe hüpften auf und nieder, als ringe sie mit sich, ob sie dort bleiben sollte, wo sie war, oder ob sie kopfüber in ihr sicheres Verderben stürzen sollte. Das Gewicht der Vase war schwerer, als Catriona anfangs erwartet hatte, und sie hoffte, dass sie vielleicht … Aber nein! Die Vase kippte nach vorne und riss die blonde Schönheit mit sich in die Tiefe. Catriona wappnete sich gegen den Aufprall. Das Klirren des zerberstenden Glases auf dem Hartholzboden ließ die Kundengespräche schlagartig verstummen. Die abrupte Stille, die im Laden folgte, war ohrenbetäubend. Catrionas Gesicht glühte, als sich die anderen Kunden neugierig umdrehten und sie anstarrten. Sie blickte Nora an. Die Kühnheit ihrer kleinen Schwester war wie weggeblasen. Ihr cremeweißes Gesicht war jetzt kreidebleich. Allerdings nicht so blass wie das der Porzellanpuppe, die jetzt wenig damenhaft vor ihren Füßen lag. Die Seidenröcke hingen in alle Richtungen. Das hübsch bemalte Gesicht und die filigranen Porzellanhände waren in Scherben über den ganzen Boden verstreut. Nora hob den Blick und schaute sie mit großen Augen an. Catriona schluckte die scharfen Worte, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter. Erst recht, als sie den Ladenbesitzer sah, der jetzt mit knallrotem Gesicht durch den Gang auf sie zustürmte. »Sie werden für das, was Ihre Tochter angerichtet hat, bezahlen! Diese Puppe war eine Sonderbestellung aus Paris. Und die Vase war aus reinem Bleikristall!« Sein anklagender Tonfall verstärkte ihre Beschämung noch mehr, aber sie machte sich nicht die Mühe, seinen Irrtum in Bezug auf Nora zu verbessern. »Ja, Sir. Ich bezahle den Schaden. Es war unsere Schuld.« »Worauf Sie sich verlassen können!« Seine Augen schossen von ihr zu Nora, dann zu dem angerichteten Schaden und wieder zu ihr zurück. »Zuerst kommt so jemand wie Sie hier herein und versucht, mich zu bestehlen und sich zu nehmen, was ihm nicht gehört. Dann marschieren Sie hier durch die Gänge und machen alles kaputt, was Sie finden. Sie haben keinen Respekt vor dem Eigentum anderer Leute! Wie ich schon sagte: Sie werden jeden Cent bezahlen, den mich das kostet. Plus das, was ich verdient hätte, bevor Ihr Balg loslief und …« »Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, Sir. Ich werde zahlen, was wir Ihnen schulden.« Seine Wut verletzte ihren Stolz, aber seine verächtliche Arroganz entfachte ihr Temperament. Catriona schob Nora hinter sich, da sie das Mädchen vor diesem unangenehmen Mann abschirmen wollte. Gleichzeitig wollte sie ihn vor Nora abschirmen. Ihre Schwester sah so süß aus wie Mamas Buttertoffeekuchen, aber das Mädchen konnte sehr eigensinnig sein. Nora war nun mal ihre Schwester. »Allerdings drängt sich mir schon eine Frage auf, Sir. Etwas finde ich ein wenig sonderbar.« Catriona gelang ein halbes Lächeln. »Warum stellen Sie eine so wertvolle Puppe in ein so tiefes Regalfach? Und dann auch noch neben eine Vase aus reinem Bleikristall.« Sie sprach die Worte absichtlich mit der gleichen hochnäsigen Betonung aus wie er. Die Röte, die an seinem Stiernacken hochkroch, verriet, dass er genau verstand, was sie damit sagen wollte. Er trat einen Schritt auf sie zu, aber sie wich nicht zurück. Sie hatte schon in jungen Jahren gelernt, Rückgrat zu zeigen, wenn sie der Wut eines Mannes ausgesetzt war, und dieser Mann hier hatte nicht gläserweise Whiskey und Rum intus, was so eine Situation immer deutlich prekärer machte. Abgesehen davon hatte ihr Vater sie und ihre drei Schwestern nie geschlagen, wenn er betrunken gewesen war. Das hatte er sich für die Momente aufgehoben, in denen er nüchtern gewesen war. Als wollte er sich später daran erinnern können, was für ein Gefühl es war, wenn sein Handrücken ihr Gesicht traf. Mama und Ryan hingegen hatten die volle Wucht seines Jähzorns abgekommen, egal ob er nüchtern oder betrunken gewesen war. Catriona hatte versucht, die beiden zu beschützen, aber Mama hatte es gut verstanden, Vaters Aufmerksamkeit abzulenken. Und Ryan, Gott segne ihn, war mit einer Ritterlichkeit geboren worden, die ihm nicht erlaubte, tatenlos danebenzustehen, wenn ihr Vater handgreiflich wurde. Er sah es als seine Pflicht an, Frauen zu beschützen. Jahrelang hatte ihr Vater Ryan für diese Entscheidung teuer büßen lassen. Immer wieder. Ryan hatte mit der Entscheidung, nach Amerika zu gehen, gerungen, da er den Rest der Familie nicht schutzlos Vaters Zorn aussetzen wollte. Aber als er vor der Wahl gestanden hatte, entweder zu verhungern oder die größte Wucht der Misshandlungen ihres Vaters abzufangen, war seine Entscheidung schnell gefallen. Zusammen mit Mama war es Catriona gelungen, ihre jüngeren Schwestern zu beschützen. Ihr war nie bewusst gewesen, wie sehr sie ihren Vater hasste, bis er in dieser Holzkiste gelegen hatte, die Hände so friedlich und sanft über seiner Brust gefaltet. Ein starker Kontrast zu der Hand, die er so oft im Zorn erhoben hatte. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie nie eine Träne über diesen Mann vergießen würde. Sie stellte fest, dass es leicht war, diesen Eid zu halten. »Die Puppe stand an einer Stelle, an der die Kunden sie sehen konnten!« Der eiskalte Tonfall des Ladenbesitzers passte zu dem stahlharten Blick in seinen Augen. »Wenn Sie das Schild dort gelesen hätten, das in einem anständigen amerikanischen Englisch geschrieben ist, hätten Sie gewusst, dass die Puppe zerbrechlich war. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand hat, hätte gewusst, dass die Vase ebenfalls zerbrechlich war.« Das hämische Grinsen, zu dem sich sein Mund verzog, spiegelte sich auch im Blick seiner Augen wider. Tatsächlich prangte höhnisch ein handgeschriebenes Schild im Regalfach und bestätigte seine Behauptung, was Catriona nur noch gereizter machte. »Wie viel schulde ich Ihnen, Sir? Für die Puppe und die Vase?« Er kniff die Augen zusammen. »16 Dollar und 50 Cent.« Ein leises Keuchen kam von den umstehenden Kunden, die dieses Gespräch gespannt verfolgten. Catriona hatte Mühe, nicht laut zu stöhnen. Diese Summe war viel höher, als sie geschätzt hatte. Dank Ryan hatte sie so viel Geld – sogar erheblich mehr –, aber es schmerzte sie, unter solchen Umständen einen so hohen Betrag zu zahlen. »Bezahlen Sie jetzt, was Sie mir schulden? Oder soll ich die Polizei holen?« Eine unmissverständliche Herausforderung lag im Ultimatum dieses Mannes. Catriona entging das Vergnügen in seinem Tonfall nicht. Offenbar hoffte er, sie gäbe ihm einen Anlass, Letzteres zu tun. »Ja, Sir. Ich zahle diese Summe. Das habe ich Ihnen bereits gesagt.« Er runzelte ungläubig die Stirn. »Aber ich brauche eine …«, sie räusperte sich leise, »… gewisse Privatsphäre, um an das Geld zu gelangen.« Sein Blick wanderte an ihr hinab, jedoch nicht auf anzügliche Weise. Eher so, als wäre sie ein herrenloser Köter, der matsch- und dreckbeklebt von den Feldern herein in seinen Laden gelaufen kam. Sie seufzte. »Könnte ich mich vielleicht kurz in einen Lagerraum zurückziehen?« »Ich lasse Sie bestimmt nicht allein in mein Lager! Sie rauben mich aus und verschwinden mit Ihrer Tochter durch die Seitentür! Und ich habe das Nachsehen!« »Ich heiße Nora!« Nora schob sich an Catriona vorbei und hatte ihre kleinen Fäuste in die Seiten gestemmt. »Ich bin ihre Schwester, Sie hässlicher Hornochse, nicht ihre Tochter.« Catriona zog an Noras Arm und bedachte sie mit einem strafenden Blick. Die Aufmüpfigkeit war in Noras Augen zurückgekehrt. Dieses Kind! »Sir«, fuhr Catriona schnell fort, da sie es nicht erwarten konnte, diese peinliche Situation hinter sich zu bringen. »Ich bezahle meine Schulden. Aber da Sie mir nicht vertrauen, könnte mich doch das Mädchen dort hinter der Theke begleiten.« Zähneknirschend erteilte der Ladenbesitzer dem Mädchen die entsprechenden Anweisungen. Trotzdem fühlte Catriona bei jedem ihrer Schritte seinen Blick auf sich und Nora, während sie der jungen Verkäuferin in den Lagerraum folgten. Catriona bedeutete Nora, vor ihr herzugehen, und forderte sie mit ihrem Blick streng auf, brav neben ihr stehen zu bleiben und den Mund zu halten. Sie musste eine Möglichkeit finden, Nora zu bändigen. Das Kind war ohne eine strenge Hand aufgewachsen. Wie oft hatte sie ihre Mutter darauf hingewiesen! »Aber Nora ist meine Kleinste, Cattie, und meine Letzte«, hatte Mama in ihren letzten Wochen geflüstert. »Wenn du eines Tages selbst Kinder hast, wirst du mich verstehen. Du wirst ihr gleichzeitig Mutter und Schwester sein müssen. Ich weiß, dass du das kannst. Ich sehe, wie du mit ihr umgehst. Geht nach Amerika, findet Ryan und schafft euch ein gutes Zuhause, ihr drei. Aber bitte lass meine Nora so lange wie möglich ein Kind sein. Diese Welt raubt einem Menschen so schnell seine Jugend. Genauso wie es bei dir war. Genauso wie es bei dir immer noch ist, meine süße, eigensinnige Cattie. Denk daran, was ich dir immer wieder gesagt habe: Gottes Hilfe ist näher als die nächste Tür. Lass nicht zu, dass dich das Leben hart macht, liebste Cattie. Trotz allem Bösen gibt es auf dieser Welt immer noch viel Gutes. Manchmal ist es nur aufgrund der vielen Dornen nicht zu sehen.« Bei der Erinnerung an die letzten Gespräche mit ihrer Mutter und an die Versprechen, die sie ihr wider besseres Wissen gegeben hatte, schnürte sich ihre Kehle zusammen. Mama hatte ein sehr schweres Leben gehabt, was hauptsächlich an ihrem Vater gelegen hatte. Catriona schluckte schwer. Sie wollte sich nie an einen Mann binden, denn sie hatte gesehen, wie sehr ihre Mutter unterjocht worden war. Das Leben stellte einen vor genügend Herausforderungen, ohne dass man sich freiwillig auch noch diese zusätzliche Last aufbürdete. Am besten war es, allein durchs Leben zu gehen. Und sie hatte Nora und Ryan. Das genügte ihr. Da ihr die etwas scheue Aufmerksamkeit der Verkäuferin nicht entging, drehte sich Catriona zur Seite und hob unauffällig ihren Rock. Als sie sich ein neues Handtäschchen genäht hatte, hatte sie sich auch einen Geldbeutel mit Bändern genäht, die sich fest um ihren Oberschenkel binden ließen. Sie war zu vorsichtig, um das Geld in ihrer Truhe zu verstauen, und sie würde es ganz gewiss nicht in einem Handtäschchen an ihrem Handgelenk tragen. Sie löste den Geldbeutel und holte das Geld heraus, das sie zusätzlich benötigte. 16 Dollar und 50 Cent. So viel Geld für ein albernes Versehen! Was würde sie nur machen, wenn sie das Geld nicht hätte? Ryan musste jeden Dollar, den er verdient hatte, gespart haben, nachdem er in die konföderierte Armee eingetreten war, um alles nach Hause zu schicken. Sie hatte von dem Vermögen und Wohlstand gelesen, der in Amerika zu finden war, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Soldaten im Bürgerkrieg einen so großzügigen Sold bekamen. Besonders die Soldaten auf der Verliererseite. Obwohl sie das wusste, fand sie nach allem, was sie seit ihrer Ankunft in Nashville gestern Nachmittag gesehen hatte, dass dieses Land nicht so reich war, wie oft behauptet wurde. Wenn es möglich war, dass eine Stadt um ihr eigenes Schicksal trauerte, dann hatte sie das gestern in Nashville gesehen: Gebäude, die mit Brettern zugenagelt waren, ausgebleichte Geschäftsnamen in gespenstischen Buchstaben an abbruchreifen Hausmauern. Straßen, die abgesehen von den Einheiten bewaffneter, blau gekleideter Unionssoldaten, die man fast an jeder Ecke sah, größtenteils menschenleer waren. Frauen, die in Schwarz und Braun gekleidet waren – ganz ähnlich wie sie und Nora –, die Köpfe gebeugt, die meisten mit Kindern in zerlumpter Kleidung im Schlepptau. Aber die Gruppen von Männern in zerschlissenen Hosen und Jacken, allem Anschein nach ehemalige konföderierte Soldaten – der Ausgang des Krieges war an ihren gebeugten Schultern und leeren Blicken zu erkennen –, berührte sie am tiefsten und zehrte schwer an ihr. Sie hatte jedes einzelne Gesicht genau betrachtet, da sie gehofft hatte, unter ihnen Ryans Gesicht zu entdecken. Sie zählte die Geldscheine, die sie aus ihrem Geldbeutel geholt hatte, ein zweites Mal und steckte den Rest in ihr Handtäschchen. Dann befestigte sie den Beutel wieder an ihrem Bein und rückte ihren Rock zurecht. Der Beutel befand sich an der Außenseite ihres Beins und wurde von den Stofffalten ihres Rockes perfekt versteckt. »Das war sehr tapfer«, flüsterte die junge Verkäuferin. Catriona drehte sich um und schaute sie erstaunt an. »Was Sie dort im Laden gemacht haben! Dass sie dem alten Mr Pritchard die Stirn geboten haben. So nennen ihn die Leute hinter seinem Rücken.« Das Mädchen warf einen Blick zur Tür, die in den Gemischtwarenladen führte. Catriona hörte die Bewunderung in ihrem Tonfall und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Geduld mit Menschen, die andere mit so viel Verachtung behandeln. Besonders wenn sie ihr Gegenüber überhaupt nicht kennen. Einige Leute sehen in einem Menschen nur das, was sie zu sehen beschlossen haben, statt das, was wirklich da ist. Aber ich muss gestehen …«, sie senkte die Stimme, »es hat sich richtig gut angefühlt, mich mit diesem alten Tyrannen anzulegen.« Das Mädchen lachte und Nora grinste breit. »Wie heißt du?«, fragte Catriona. »Braxie.« Catriona lächelte. »Dieser Name hat bestimmt eine interessante Geschichte.« Sie schätzte das Mädchen auf ungefähr elf oder zwölf Jahre. Ungefähr Bridgets Alter. Sie besaß eine natürliche Schönheit und ihre braunen Augen verrieten eine unverkennbare Klugheit. Man tat gut daran, sie nicht zu unterschätzen. »Mein Papa hat mich nach einem Jungen genannt, mit dem er in North Carolina aufgewachsen ist. Ein Freund von ihm. Dieser Freund war später im Krieg ein General. General Braxton Bragg.« Sie verkündete das mit deutlich hörbarem Stolz. Catriona forderte sie mit einem Nicken auf weiterzuerzählen, da sie ahnte, dass das noch nicht die ganze Geschichte war. »Ich habe den Namen jedoch vor einiger Zeit zu Braxie abgekürzt. Mama und ich fanden, dass Braxie eher zu einem Mädchen passt.« »Das finde ich auch. Mir gefällt der Name. Er passt zu dir. Bist du deinem berühmten Namensvetter schon einmal begegnet?« »Nein, Ma’am. Aber ich hoffe, dass ich ihn eines Tages sehe.« Braxies Augen leuchteten auf. »General Bragg hat eine Weile die Armee von Tennessee befehligt.« »Die Armee von Tennessee?« Catrionas Interesse war geweckt. »Mein Bruder war in der …« »Unser Bruder!«, mischte sich Nora schnell ein und schaute sie unnachgiebig an, während sie mit einem Garnknäuel spielte, das sie irgendwo gefunden hatte. Catriona konfiszierte das Garn und legte es in ein Regal, während sie die mürrische Miene ihrer Schwester mit einem scharfen Blick konterte. Daraufhin rümpfte Nora die Nase und steckte die Hand in ihre Manteltasche. Noch bevor das Mädchen den Inhalt herausholte, kniff Catriona die Augen zusammen. Sie hatte Nora ermahnt, nicht ständig Steine zu sammeln. Aber überall, wohin sie gingen, bestand sie darauf, Steine zu sammeln. Sie hatte sogar einen Beutel voller Steine aus Irland in ihrer Truhe versteckt und nach Amerika mitgebracht. Mit trotzig funkelnden blauen Augen hielt Nora ihr eine Handvoll Steine hin. Catriona holte tief Luft und war fest entschlossen, sich nicht ködern zu lassen. Sie wandte sich wieder an Braxie. »Unser Bruder war in der Armee von Tennessee«, fuhr Catriona fort und bemühte sich um eine ruhige Stimme. »Er hat hier im Krieg gekämpft?«, Braxies Blick wanderte zwischen ihr und Nora hin und her. »Ja. Er und drei Freunde von ihm kamen im Frühling 62 aus Irland hierher und wurden sofort in die konföderierte Armee eingezogen.« Im Bruchteil einer Sekunde wurde das Bild von Ryan, Liam, Brody und Ferris – Freunde seit Kindertagen –, die ihr Zuhause verlassen hatten, um in Dublin auf ein Schiff mit Ziel Amerika zu gehen, vor ihrem geistigen Auge lebendig. Ferris war sehr früh im Krieg gefallen, hatte Ryan geschrieben. Eine Kugel mitten ins Herz. Als Ferris neben ihm zu Boden gegangen war, hatte sich ihr Bruder nach unten gebeugt, um ihm wieder auf die Beine zu helfen, aber sein Freund war bereits tot gewesen. Catriona konnte sich das nicht vorstellen. »Deshalb«, sprach sie weiter und riss sich von diesen Gedanken los, »sind wir nach Franklin gekommen, um …« »Braxie! Seid ihr da hinten immer noch nicht fertig?« Die Stimme des Ladenbesitzers klang sehr gereizt. Braxie ging zur Tür, schien es aber nicht allzu eilig zu haben. Catriona beglückwünschte das Mädchen im Stillen für sein Rückgrat. »Wir kommen schon, Onkel.« Braxie schaute Catriona vielsagend an und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Er ist dein Onkel?«, flüsterte Catriona und schämte sich nun wegen der Worte, mit denen sie den Verwandten des Mädchens beschrieben hatte. Braxies Lächeln verwandelte sich in ein fröhliches Lachen. »Ich bin nicht beleidigt. Er ist zwar mein Onkel, aber er ist auch ein alter Tyrann.« Mit einem beruhigenden Blick führte Braxie die beiden in den Laden zurück. Catriona folgte ihr und war für das Verständnis des Mädchens dankbar. Im Laden stellte sie fest, dass die Scherben auf dem Gang bereits beseitigt worden waren. Zu ihrer Erleichterung waren die meisten Kunden, die Zeugen dieser unerfreulichen Situation gewesen waren, nirgends mehr zu sehen. Mit Braxies Hilfe fand sie die Waren, wegen der sie eigentlich gekommen waren, und zahlte ihre Schulden. Braxie atmete hörbar aus und strich mit dem Finger über den Geldschein in ihrer Hand. »Ich habe seit Ewigkeiten keinen Fünfzig-Dollar-Schein mehr gesehen.« Catriona lächelte und fühlte sich bei der Aufmerksamkeit, die Braxies Bemerkung bei den anderen Kunden in der Nähe auslöste, ein wenig unwohl. Aber vor allem beunruhigte sie Onkel Pritchards strenger Blick. Er stand neben Braxie und überwachte schweigend die Bezahlung, da er zweifellos sicherstellen wollte, dass sie für ihre Fehltritte einstand. Nora hatte eine missmutige Miene aufgesetzt, was in diesen Tagen nichts Ungewöhnliches war. Die dunklen Wolken über dem Gemüt ihrer Schwester zogen meistens kurz vor dem Schlafengehen am Abend auf und kündigten ein stummes Schluchzen an. Ihre Schwester so traurig weinen zu sehen, brach Catriona das Herz. Kurz nachdem die Ruhr ihr grausames Werk vollendet hatte und Mama gestorben war, hatte sie einmal versucht, Nora an ihre Brust zu ziehen, um sie zu trösten. Aber Nora hatte sie von sich weggeschoben. Erst als sie endlich eingeschlafen war, hatte Catriona ihren kleinen Körper an sich heranziehen und versuchen können, ihren Schmerz zu lindern. Der gleiche Schmerz brach auch ihr selbst das Herz. Braxie zählte das Wechselgeld ab und hielt ihr dann den Stoffbeutel mit ihren Einkäufen hin. »Es würde mich freuen, wenn Sie und Ihre Schwester bald wiederkommen«, sagte sie in einem freundlichen und verschwörerischen Tonfall. Dankend nahm Catriona den Beutel entgegen und warf einen Blick hinüber, um zu sehen, ob Mr Pritchard etwas gemerkt hatte, aber er bediente schon eine andere Kundin. »Nochmals danke für deine Hilfe, Braxie. Vielleicht sehen wir uns wieder, solange wir in der Stadt sind.« »Hoffentlich.« Braxie warf einen Blick auf Nora und schaute dann Catriona wieder an. »Mir ist gerade aufgefallen, dass ich nicht einmal weiß, wie Sie heißen.« »Oh, entschuldige. Ich bin Catriona O’Toole und das ist meine Schwester Nora.« »Es freut mich, dass wir uns kennengelernt haben.« »Mich auch.« Catriona blickte nach unten, um zu sehen, ob Braxies Bemerkung ihre Schwester vielleicht ein wenig aus der Reserve gelockt hatte, aber das finstere Stirnrunzeln war unverändert. Sie hielt Nora fest an der Hand und wollte schon zur Tür gehen, als sie sah, dass Mr Pritchard die Porzellanpuppe in den Lagerraum brachte. Er wischte den Staub sorgfältig vom Rock der Puppe. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Entschuldigung, Sir!«, rief sie. Er reagierte nicht. Sie versuchte es erneut. »Mr Pritchard!« Er blieb stehen und drehte sich langsam und fast widerwillig um. Seine Augen waren zusammengekniffen. Sie wartete, aber offenbar war von ihm nicht mehr als dieser hasserfüllte Blick zu erwarten. »Wir wollen diese Puppe bitte mitnehmen.« Sie deutete auf die Puppe in seiner Hand und ging zu ihm. Er schaute zuerst die Puppe und dann sie an. »Aber sie ist völlig ruiniert. Wertlos.« Sie war sich nicht sicher, aber sie hätte das ganze Geld in ihrem Handtäschchen darauf gewettet, dass er das selbst nicht glaubte. »Sie ist zerbrochen, aber nicht völlig ruiniert. Vielleicht kann man sie reparieren. Deshalb nehmen wir sie mit. Vielen Dank.« Catriona hielt ihm die Hand hin. Er unternahm keine Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen. »Ich habe gutes Geld für diese Puppe gezahlt, Sir. Vermutlich viel mehr, als die Puppe wert ist. Und ich habe nicht die Absicht, sie hierzulassen. Die Vase nehme ich auch mit.« Das teure Glas war in viele Scherben zerbrochen, aber einige Stücke waren größer und sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass er daraus etwas anderes machte und auch nur einen Cent – oder auch nur die geringste Befriedigung – aus dem Gegenstand, für den sie so teuer bezahlt hatte, herausholte. »Die Vase ist bereits im Mülleimer.« Sie legte den Kopf schief. »Dann ist es bestimmt nicht schwer, die Teile in einen Beutel zu kippen, nicht wahr?« Sein hart vorgeschobenes Kinn verriet, dass er mit seiner Geduld am Ende war. Sein Blick wanderte hinter sie und richtete sich dann wieder auf sie. »Sie sollten Ihre Zunge hüten, Mädchen«, knurrte er leise. »Vielen hier gefällt es überhaupt nicht, dass solche wie Sie in unsere Stadt kommen und sich hier breitmachen wollen.« Ihre Augen weiteten sich. »Wer sagt, dass ich mich hier breitmachen will? Aber da alle hier so freundlich zu uns sind, weckt das natürlich den Wunsch, hier Wurzeln zu schlagen.« Seine Augen wurden böse und gemein. Sie befürchtete zwar nicht, dass er hier, mitten in einem Gemischtwarenladen mit mehreren Zuschauern, seinem Ärger Luft machen würde, aber das leichte Gewicht des Dolches, den sie in ihrem Ärmel versteckt hatte, gab ihr Mut. Sie hatte diese Klinge bis jetzt erst einmal benutzt, zur Selbstverteidigung auf dem Schiff, aber der Ausgang war sehr effektiv gewesen, obwohl ihre Hände stark gezittert hatten. Damals hatte sie sich vorgenommen, diese Waffe immer bei sich zu haben. Denn sie kannte Männer. Sie wusste, zu welchem Zorn und zu welcher Brutalität sie fähig waren. Pritchard kippte die Scherben in einen Beutel und schob ihn ihr hin, dann hielt er ihr die Puppe hin und ließ sie zu früh los. Catriona gelang es, sie aufzufangen, und ersparte der gesichtslosen und handlosen Schönheit ein zweites Trauma an diesem Tag. Sie bedachte Pritchard mit einem triumphierenden und sogar ein wenig schadenfrohen Lächeln. »Es hat mich gefreut, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Sir.« Sie würdigte ihn keines weiteren Blickes, während sie und Nora den Laden verließen. Draußen grub sich ein grausamer Märzwind mit eisigen Fingern durch ihre wollenen Umhänge. Catriona zog die Kapuze ihres Umhangs über ihren Kopf hoch. Sie bückte sich, um bei Nora das Gleiche zu machen, aber ihre Schwester schlug ihre Hand weg. Wie sie wollte! Wenn diese kleinen Ohren eiskalt wurden, würde sie es sich bestimmt anders überlegen. Sie stapften schweigend durch die matschige Straße. Nicht weit vor ihnen entdeckte sie eine Kirche an der Straßenecke. »Presbyterianische Kirche von Franklin«. Das Gebäude war aus Backsteinen gebaut und wirkte sehr imposant mit seinen hohen Buntglasfenstern und einem Turm, der hoch zum Himmel ragte. Man konnte diese Kirche bestimmt meilenweit sehen. Sie hatte jedoch bestimmt nicht vor, dieses Gebäude zu betreten. Sie wollte von den schwachen Versprechungen, die solche Orte machten, nichts mehr hören. Aber das hübsche Walnusswäldchen, das an die Kirche grenzte … Hier würde sie sich an einem gemütlichen Sommernachmittag bestimmt wohlfühlen. Sie gingen ein Stück weiter und kamen am Williford-Hotel vorbei. Dieses Hotel hatte ihr der Bahnhofsvorsteher empfohlen. Sie hatte für Nora und sich bereits ein Zimmer für die Nacht reserviert. Je nachdem, was sie heute von John McGavock erfahren würde, falls sie überhaupt irgendetwas in Erfahrung bringen konnte, würden sie von Franklin aus weiterfahren. Wohin auch immer. Plötzlich trieben die Erschöpfung und Trauer, die sie seit Wochen, nein, seit Monaten verdrängt hatte, Tränen in ihre Augen. Die lange geleugneten Gefühle kehrten mit einer großen Wucht zurück und raubten ihr fast den Atem. Es war ja nicht etwa so, dass sie nicht glauben würde, dass Gott die Not von Menschen sah und ihnen half. Das glaubte sie schon. Sie glaubte nur nicht mehr, dass er ihr helfen würde. »Ich habe Hunger, Cattie!« Catriona atmete tief ein und hatte Mühe, ihre Stimme – und wenigstens einen Funken Hoffnung – zu finden. »Endlich sprichst du wieder.« Noras Miene wurde noch finsterer. »Mir gefällt diese Stadt nicht. Ich will nicht hier sein.« »Ehrlich gesagt gefällt es mir hier auch nicht besonders. Aber wir können uns unseren Weg nicht immer aussuchen. Darüber haben wir schon gesprochen. Erinnerst du dich?« Nora sagte nichts, aber ihre Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Catriona seufzte. »Wir sind hier, weil unser lieber Ryan hierherfahren wollte. Franklin, Tennessee. Das hat er in seinem letzten Brief geschrieben. Diesen Teil aus seinem Brief habe ich dir im Zug vorgelesen. Wir müssen zu einem Mann gehen, der außerhalb der Stadt wohnt, und mit ihm sprechen. Er kann uns hoffentlich helfen, unseren Bruder zu finden.« Catriona holte eine Schachtel mit Kräckern aus dem Stoffbeutel und hielt sie Nora hin. Mit Braxies Hilfe hatte sie außerdem noch eine besondere Süßigkeit für ihre Schwester gekauft, aber die wollte sie für später aufheben und sie ihr erst kurz vor dem Schlafengehen geben, denn dann brauchte Nora sie am nötigsten. Ohne ein Wort nahm Nora die Schachtel, öffnete sie und begann, sich das Salzgebäck in den Mund zu schieben. Catriona wartete, dann schaute sie ihre Schwester vielsagend an. »Wie sagt man?« Nora schaute sie süß an. Zu süß. »Danke, Catriona … für die trockenen Kräcker.« Catriona seufzte und hätte ihr die Schachtel am liebsten aus der Hand genommen. Eigentlich konnte Nora keinen großen Hunger haben. Sie hatten sich in Nashville einen großzügigen Teller mit Pfannkuchen, Eiern und Speck geteilt, bevor sie in den Zug gestiegen waren. Und auch eine Zimtschnecke. Sie liebten beide Süßigkeiten jeder Art, das war eines der wenigen Dinge, auf die sie sich in diesen Tagen einigen konnten. Aber wenn sie ihrer Schwester jetzt die Kräcker wegnahm, müsste sie mit Tränen oder Wutausbrüchen oder Schlimmerem rechnen und sie brachte im Moment weder die Geduld noch den Willen dazu auf. Deshalb ging sie weiter. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf ihre Aufgabe, obwohl das Heimweh und die Sehnsucht nach ihrer Familie ihr Herz schwer machten. Sie warf einen Blick auf das Feld, das sich rechts von ihnen ausbreitete. Das winterliche Grau verstärkte ihre Einsamkeit. Sie vermisste die leuchtenden Blau- und Grüntöne so sehr, die sie zu Hause von allen Seiten umgeben hatten, wenn sie in der Grafschaft Antrim auf den Klippen gestanden und aufs Meer hinausgesehen hatte. Die Gischt des Ozeans hatte ihr Gesicht abgekühlt und Erinnerungen geweckt, wie sie und Ryan sich Amerika für ihre Familie erträumt hatten. Aber die Wirklichkeit war ganz anders als dieser Traum. Die Straße, die nach Süden führte, wurde schmaler, je weiter sie gingen. Um den schlimmsten Spurrillen auszuweichen, die sich in der Mitte tief in die Erde gegraben hatten, bewegte sie sich vorsichtig auf der rechten Seite und bedeutete Nora, es ihr gleichzutun. Der Portier im Hotel hatte ihr die Wegbeschreibung zum Haus der McGavocks gegeben. »Es liegt ungefähr eine Meile südöstlich der Stadt, an der Lewisburg Pike. Links liegt der Harpeth River und rechts Carnton.« Carnton. Die McGavocks hatten also ein Stück ihrer Heimat mitgenommen, als sie Irland vor vielen Jahren verlassen hatten. Trotz der strengen britischen Herrschaft wurde in der Grafschaft Antrim immer noch Gälisch gesprochen, aber sie fand es sonderbar, dass die McGavocks ihrem Haus in Amerika diesen Namen gegeben hatten. Cairn. Ein Steinhaufen. Ein Denkmal. Zu Ehren der Toten. Wie ein Friedhof. Eine makabre Namenswahl, fand sie. Sie hatte schon immer eine Abscheu vor Friedhöfen gehabt. Sie hasste die Endgültigkeit, die sie repräsentierten, und die Bilder aus ihrer Kindheit, die sie weckten. Sie hatte beschlossen, diese Bilder in Irland zurückzulassen. Etwas, das der Portier hinzugefügt hatte, hallte unangenehm in ihr wider. »Sie können das Haus nicht verfehlen.« Das klang, als hätte sich John McGavock ein großes Haus gebaut – auf Kosten der O’Tooles. Ihre Familie betrieb seit Generationen eine Druckerei und war nie reich gewesen, aber sie hatten sich über Wasser gehalten. Besonders da Ryan ein ausgesprochenes Talent für Illustrationen und Ausschmückungen besaß. Er hatte ein verblüffendes Auge fürs Detail und war ein geschickter Zeichner. Reiche Leute bezahlten für so etwas gutes Geld. Sie schüttelte den Kopf. Das Vermächtnis ihrer eigenen Familie hätte ganz anders aussehen können, wenn John McGavocks Großvater ihren Urgroßvater nicht um sein Land betrogen hätte. Ohne Land war eine Familie nichts. Dieses Schicksal hatte ihre Familie erlitten. Sie waren nichts. Einen großen Teil der Schuld gab sie ihrem Vater. Er hatte das kleine Erbe, das er gehabt hatte, mit Alkohol und Wetten durchgebracht. Aber wenn er alles bekommen hätte, was ihm rechtmäßig zugestanden hatte, wäre er vielleicht ein anderer Mann gewesen. Ein besserer Mann. Die grauen Wolken, die sich über ihnen zusammenzogen, machten ihre Drohung wahr. Ein leichter Nieselregen fiel geräusch- los auf die Erde und benetzte alles, was sich bewegte, und alles, was sich nicht bewegte. »Ich habe Durst, Cattie!«, jammerte Nora, die mehrere Schritte hinter ihr die Straße entlangstapfte. »Dann leg den Kopf zurück und mach den Mund auf. Der Regen wird deinen Durst schnell stillen.« Ein Moment verging. »Meine Füße tun weh! Au! Diese Stiefel, die du mir gekauft hast, taugen einfach nichts.« »Sie sind viel besser als die papierdünnen Schuhe, die wir hatten, als wir zu Hause aufbrachen. Hör auf zu jammern und geh weiter. Wir sind bald da. Dann kannst du dich ausruhen.« Ein übertriebenes Seufzen war die ganze Antwort, die sie bekam. Sie reagierte nicht darauf. Sie konzentrierte sich lieber da-rauf, was sie zu John McGavock sagen wollte. Sie wollte gleich am Anfang erklären, wer sie war, und war gespannt, ob seine Augen bei dem Namen O’Toole verrieten, dass er sich an ihre Familie erinnerte. Seit ihrer Familie das Land gestohlen worden war, waren viele Jahre vergangen. Das war lange vor ihrer Geburt gewesen. Ihr eigener Vater war damals noch ein kleiner Junge gewesen. Aber sie hatte ihren Vater die traurige Geschichte so oft erzählen hören, dass sie sie selbst wiedergeben könnte. Dann wollte sie McGavock nach Ryan fragen – das war der eigentliche Grund, warum sie zu ihm kam. Sie wollte wissen, ob ihr Bruder auf Carnton gewesen war, um mit McGavock zu sprechen. Falls Ryan es bis hierhin geschafft hatte, hatte er hoffentlich keinen so schlechten Eindruck hinterlassen, dass der Mann ihr absichtlich Informationen vorenthalten würde. Sie hoffte wider alle Hoffnung, dass sie Franklin morgen mit neuen Informationen über … Ein durchdringender Schrei ertönte hinter ihr. Catriona hätte sich fast umgedreht, doch sie beherrschte sich, da sie ihre Schwester kannte. »Nora, ich weiß, dass du müde bist«, rief sie. »Aber ich habe heute keine Zeit und keine Geduld für dein Geschrei. Also hör auf zu jammern und geh weiter. Wir sind bald da.« »Cattie! Hilf mir!« Heiße Wut stieg in Catrionas Brust auf. Sie beschleunigte ihre Schritte und warf die Worte wie Steine hinter sich: »Nora Emmaline O’Toole, ich habe es so satt, dass du …« »H-hilf mir, C-Cattie. Bitte!« Catriona verlangsamte ihre Schritte. Es war nicht die Art ihrer Schwester zu betteln. Sie drehte sich um, aber als sie Nora auf einem alten Baumstumpf sitzen sah, war ihr Ärger erneut entfacht. Doch dann bemerkte sie das Entsetzen in ihrem Gesicht. Catriona ließ die zwei Stoffbeutel fallen und lief zurück. Sie hatte höchstens fünfzehn Schritte zurückgelegt, als sie es sah: Es war wie etwas aus Dantes Inferno. Vor dem Baumstumpf, auf dem sich Nora zusammenkauerte und das Gesicht zwischen ihren Knien vergrub, ragte eine Hand aus der Erde. Die Finger waren steif und verdreht. Sie griffen nach oben, als wollten sie etwas packen und in die Tiefe ziehen. Die Zeit und die Tiere hatten den größten Teil des Fleisches abgenagt und Catriona konnte selbst nur mühsam einen Schrei unterdrücken. Besonders als ihr Fuß im Matsch einsank und auf etwas Festes darunter stieß. Sie blickte sich um und atmete stockend ein. Keine zwanzig Zentimeter hinter ihr lag ein Schädel. Am meisten erschütterte sie, dass er immer noch an einem Körper zu hängen schien. An dem Körper unter ihren Stiefeln. Sie schwang Nora auf ihre Arme und lief los. Dabei stolperte sie über ein notdürftig angefertigtes Grabkreuz und über andere Markierungen, die sie nicht genauer anschaute. Als sie die Straße erreichten, wurde Noras schraubstockartiger Griff um ihren Hals noch fester und machte Catriona das Atmen schwer. »Nora.« Catriona rang keuchend nach Luft. »Ich bin bei dir, Liebes. Ich bin bei dir.« Aber Nora vergrub ihr Gesicht weiterhin an ihrem Hals. Ihr kleiner Körper zitterte, ob vor Angst oder vor Kälte oder vor beidem, wusste Catriona nicht genau. Sie hielt ihre Schwester noch fester und strich über die leuchtend roten Locken auf ihrem Rücken. Dabei flüsterte sie ihr immer wieder zu: »Alles wird wieder gut, alles wird wieder gut«, genauso wie es ihre Mutter vor ihrem Tod getan hatte. Aber noch während dieses Versprechen über ihre Lippen kam, schmeckte sie, wie leer diese Worte waren. Sie kniff die Augen zusammen und starrte über das Feld, das sich ungefähr eine Meile weit erstreckte. Sie entdeckte unzählige andere Stellen, an denen etwas aus der Erde ragte. Aus der Ferne sah es aus wie ein umgegrabenes Feld nach dem Winter. Aber sie hatte einen anderen Verdacht. In diesem Moment drehte der Wind und ihr Verdacht bestätigte sich. Sie hielt sich die Hand an die Nase. Noras Arme legten sich noch verkrampfter um ihren Hals. Catriona küsste sie auf den Kopf und drückte sie eng an sich. Welche grausame Hölle hatte die verschlafene Kleinstadt Franklin heimgesucht? Sie hoffte von ganzem Herzen, dass ihr lieber Ryan dieser Hölle nicht auch zum Opfer gefallen war.

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