Die zweite Schwester

Du bist als Erste verschwunden. Bin ich die Nächste?

Miranda war eine glückliche Frau und Mutter, als sie verschwand. Niemand fand auch nur eine einzige Spur von ihr. Zehn Jahre später ist ihre Schwester Ella noch immer auf der Suche – nach der Vermissten, nach der Wahrheit und danach, wer Miranda eigentlich war. Fieberhaft folgt sie jedem Hinweis.
Aber jemand beobachtet Ella dabei. Und lädt sie ein, das Geheimnis der Schwester zu lüften. Ella schlägt alle Warnungen in den Wind und folgt ihrem Instinkt. Sie weiß, was sie zu tun hat. Sie zieht ein Kleid ihrer Schwester an und wagt sich in die Höhle des Löwen. 

"Spannend, stilsicher, ganz wunderbare packende Unterhaltung." New York Times
"Ein fesselnder literarischer Thriller." Los Angeles Times

 

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Die zweite Schwester

Du bist als Erste verschwunden. Bin ich die Nächste?

Miranda war eine glückliche Frau und Mutter, als sie verschwand. Niemand fand auch nur eine einzige Spur von ihr. Zehn Jahre später ist ihre Schwester Ella noch immer auf der Suche – nach der Vermissten, nach der Wahrheit und danach, wer Miranda eigentlich war. Fieberhaft folgt sie jedem Hinweis.
Aber jemand beobachtet Ella dabei. Und lädt sie ein, das Geheimnis der Schwester zu lüften. Ella schlägt alle Warnungen in den Wind und folgt ihrem Instinkt. Sie weiß, was sie zu tun hat. Sie zieht ein Kleid ihrer Schwester an und wagt sich in die Höhle des Löwen. 

"Spannend, stilsicher, ganz wunderbare packende Unterhaltung." New York Times
"Ein fesselnder literarischer Thriller." Los Angeles Times

 

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Du bist als Erste verschwunden. Bin ich die Nächste?

Miranda war eine glückliche Frau und Mutter, als sie verschwand. Niemand fand auch nur eine einzige Spur von ihr. Zehn Jahre später ist ihre Schwester Ella noch immer auf der Suche – nach der Vermissten, nach der Wahrheit und danach, wer Miranda eigentlich war. Fieberhaft folgt sie jedem Hinweis.
Aber jemand beobachtet Ella dabei. Und lädt sie ein, das Geheimnis der Schwester zu lüften. Ella schlägt alle Warnungen in den Wind und folgt ihrem Instinkt. Sie weiß, was sie zu tun hat. Sie zieht ein Kleid ihrer Schwester an und wagt sich in die Höhle des Löwen. 

"Spannend, stilsicher, ganz wunderbare packende Unterhaltung." New York Times
"Ein fesselnder literarischer Thriller." Los Angeles Times

 


Product Details

ISBN-13: 9783843718325
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 11/30/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 480
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

About The Author
Claire Kendal wurde in den USA geboren und ist in England aufgewachsen. Sie unterrichtet Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben und lebt mit ihrer Familie im Südwesten Englands. Ihr erster Psychothriller Du bist mein Tod erschien in fünfundzwanzig Ländern und war ein weltweiter Bestseller.
Sybille Uplegger studierte englische und amerikanische Literaturwissenschaft und Philosophie in Bamberg und Seattle, ehe sie nach Berlin zog, um dort als freie Übersetzerin zu arbeiten. In ihrer Freizeit erkundet die sportbegeisterte Mutter eines Sohnes verschiedene Laufstrecken rund um die Hauptstadt oder ist mit ihrem Bogen auf dem Schießplatz anzutreffen.

Claire Kendal wurde in den USA geboren und ist in England aufgewachsen. Sie unterrichtet Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben und lebt mit ihrer Familie im Südwesten Englands. Ihr erster Psychothriller Du bist mein Tod erschien in fünfundzwanzig Ländern und war ein weltweiter Bestseller.


Sybille Uplegger studierte englische und amerikanische Literaturwissenschaft und Philosophie in Bamberg und Seattle, ehe sie nach Berlin zog, um dort als freie Übersetzerin zu arbeiten. In ihrer Freizeit erkundet die sportbegeisterte Mutter eines Sohnes verschiedene Laufstrecken rund um die Hauptstadt oder ist mit ihrem Bogen auf dem Schießplatz anzutreffen.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Ende November

Deine Augen

Kürzlich sagte mir jemand, ich hätte deine Augen. Damit war nicht nur gemeint, dass meine Augen wie deine aussehen, weil sie auch blau sind, sondern dass ich dieselbe Weltsicht habe wie du.

Wenn ich in den Spiegel schaue, blickt mir dein Gesicht entgegen wie das einer einstmals wunderschönen, aber nun unter einem Fluch dahinsiechenden Hexe. Diese allmählich stumpf werdenden Juwelenaugen. Die blasse Haut und die langen schwarzen Haare. Nur die kleine Narbe an der linken Augenbraue fehlt bei mir.

Ich sehe dich überall.

Wenn ich wirklich deine Augen hätte, müsste ich dir die folgende Frage nicht stellen, die du bestimmt hassen wirst. Ich würde die Antwort bereits kennen. Aber hier kommt sie: Was würdest du tun, wenn die Polizei mit dir sprechen wollte? Denn in dieser Sache muss ich mich deiner Führung anvertrauen.

Doch am Ende genügt es, nur die Worte auszusprechen, schon erkenne ich, was zu tun ist. Die Polizisten werden mir ihre Fragen stellen, und ich werde ihnen die Antworten geben, die sie hören wollen. Fast könnten sie einem leidtun, mit ihrer naiven Überzeugung, dich durch ein Formblatt erfassen zu können, auf einer Seite oder höchstens zwei.

Wir wollen die ganze Wahrheit hören, sagen sie. Sie sind eine Hauptzeugin, sagen sie. Es geht uns dabei auch um Ihr Wohl, sagen sie. Wir brauchen stichhaltige Beweise, sagen sie. Wir werden mit den Informationen, die wir von Ihnen erhalten, angemessen verfahren, sagen sie. Sie können uns vertrauen, sagen sie. Der Erfolg der Anklage hängt von der Genauigkeit Ihrer Aussage ab, sagen sie. Möglicherweise stehen noch weitere Menschenleben auf dem Spiel, sagen sie.

Soll mich das beeindrucken? Mir schmeicheln? Soll ich ihnen dankbar sein? Angst haben? Mich eingeschüchtert fühlen? Vermutlich von allem etwas. Mir ist das nur recht. Sollen sie ruhig glauben, dass sie die erwünschte Wirkung erzielt haben.

Hinterher werde ich dann das Geschriebene durchlesen und die Richtigkeit der Angaben bestätigen. Ich werde mich kooperativ verhalten. Ich werde das fertige Protokoll meiner Zeugenaussage unterzeichnen. Und ich werde es datieren – mit ihrer Unterstützung, denn mein Zeitgefühl lässt neuerdings etwas zu wünschen übrig. Trotzdem fällt es mir leicht, die Scharade mitzumachen. Letzten Endes ist sie vollkommen unwichtig.

Wichtig ist einzig und allein, dass ich nebenher im Geheimen meine eigene Zeugenaussage verfasse, auf meine eigene Weise, Tag für Tag. Nicht auf den Wunsch der Polizei hin, sondern auf deinen. Und dies hier ist das Ergebnis. Ich tue so, als würdest du mir Fragen stellen und als würde ich dir daraufhin erzählen, wie alles gewesen ist. Ich schreibe das auf, was du wissen möchtest. Das, was wirklich passiert ist.

Aber ein Zugeständnis an den offiziellen Polizeijargon muss ich doch noch machen, Miranda: Beim Folgenden handelt es sich um meine persönlichen Wahrnehmungen und Kenntnisse der Sache. Ich, Ella Allegra Brooke, versichere hiermit, dass die in meiner Zeugenaussage gemachten Angaben der Wahrheit entsprechen. Dies hier ist deine Geschichte, aber es ist zugleich auch meine. In der Hinsicht bin ich tatsächlich unsere Hauptzeugin. Vielleicht habe ich also doch deine Augen.

Eine allerletzte Sache noch, bevor ich anfange: Mach dir keine Sorgen. Ich habe die Verschwiegenheitsklausel nicht vergessen, und ich werde sie auch nie vergessen. Dafür warst du mir eine zu gute Lehrerin. Was ich hier aufschreibe, bleibt unter uns. Es ist nur für dich bestimmt, für niemanden sonst. Ich bin die Schwester der Schwester, und du bist ein Teil von mir. Wo immer du bist, werde auch ich sein.

Mit all meiner Liebe, Melanie.

CHAPTER 2

Samstag, 29. Oktober

Die zwei Schwestern

Es gibt keinerlei sichtbare Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Aber es liegt etwas Seltsames in der Luft, eine Art Witterung, wenngleich so schwach, dass sie auch Einbildung sein könnte.

»Ich frag mich ...«, sagt Luke.

»Was fragst du dich?« Wachsam suche ich jeden Quadratzentimeter unserer kleinen Lichtung mit Blicken ab.

»Warum gibt es so viele Märchen, die davon handeln, dass Schwestern ihre Brüder retten? In allen Märchen, die du mir letzte Woche erzählt hast, war das so.«

Er hat recht. Hänsel und Gretel. Die sieben Raben. Die zwölf Brüder. Unsere Mutter scheint Hunderte solcher Märchen zu kennen.

»Wir sollten mal ein anderes Märchen schreiben«, schlage ich ihm vor.

»Ich will eins, wo eine Schwester ihre Schwester rettet.«

Ich lege ihm die Hand an die Wange. »Ich auch.«

Er marschiert zielstrebig bis zur Mitte der Lichtung und vertreibt dadurch den letzten Rest des fremden Geruchs, der dort vielleicht noch in der Luft gehangen hat. Hier haben du und ich früher in unseren kleinen Häusern aus Baumstämmen Vater?–?Mutter?–?Kind gespielt. Hier haben wir uns das Picknick schmecken lassen, das Mum zum Mittagessen nach draußen gebracht hat. Wir haben uns gegenseitig Zöpfe geflochten und einander am Rücken gekitzelt.

Kaum denke ich an deinen Rücken, sehe ich deine milchweiße Haut unter meinen Fingerspitzen und spüre meine Berührungen, so federleicht wie der Kuss eines Schmetterlings. Doch gleich darauf verschwindet das Bild, und an seine Stelle tritt ein anderes: dein Schulterblatt, auf dem eine in Blut gemalte Blume prangt. Ich höre dich schreien. Du sitzt in einem Verschlag unter der Erde, und ich kann nicht zu dir.

Ich blinzle ein paarmal in der fahlen Herbstsonne, um mich wieder darauf zu besinnen, wo ich bin, wer bei mir ist und dass ich nicht wissen kann, was damals passiert ist.

Ich höre deine Stimme. Selbst nach zehn Jahren ist sie noch nicht verstummt. Such dir ein anderes Bild, sagst du. Denk an was Wirkliches. Das hast du mir früher immer geraten, wenn ich Angst hatte, ein Monster könnte unter meinem Bett lauern.

Ich schaue mich auf unserer Lichtung um. Das hier, sage ich mir, das hier ist wirklich. Hier haben Ted und ich als Kinder an Sommertagen Hand in Hand auf dem weichen Grasteppich gelegen und durch das Blätterdach der Baumkronen geschaut. Wir haben Schnipsel von blauem Himmel und weißen Wolken und einen rosa Schnee aus Kirschblüten gesehen.

Aber das Wirklichste von allem ist dein Sohn. Er bückt sich, um einen kleinen Haufen papierdünnes Laub aufzuheben. »Hand auf«, befiehlt er mir. Ich gehorche, und er lässt tiefrote Blätter in meine Handfläche rieseln. »Feuerblätter«, sagt er.

Ich verdränge das Bild der blutigen Blume und ringe mir ein Lächeln ab.

Als Nächstes rafft er eine Handvoll Laub in Hellorange zusammen. »Sonnenblätter«, sagt er und wirft sie hoch in die Luft, sodass sie auf uns herabregnen.

Er findet sogar noch ein paar grüne Blätter. »Frühlingsblätter«, sagt er.

Ich bücke mich und sammle einige gelbe Blätter von unserem Kirschbaum auf, die ich Luke hinhalte. »Und was sind das für welche?«

»Sommerblätter.« Im nächsten Moment platzt es aus ihm heraus: »Ich will bei dir wohnen, Tante Ella.«

Ich blicke in Lukes klare blaue Augen, die deinen so ähnlich sind. Wenn ich alles andere ausblende, kann ich fast glauben, dass du es bist, die mir hier gegenübersteht. Schon wieder überrumpelt mich ein Bild. Ich sehe deine Augen, vor Schmerz und Angst weit aufgerissen, die Wimpern nass von Tränen.

In den letzten Jahren sind diese schrecklichen Wachträume immer seltener geworden. Ich habe lange gebraucht, um ihrer Herr zu werden, aber die Schlagzeilen von letzter Woche haben meine mühsam errichteten Schutzwälle zum Einsturz gebracht.

Ungelöster Fall – neue Verbindung zwischen Mehrfachmörder Jason Thorne und vermisster Miranda B. aufgetaucht.

Schon vor acht Jahren, als Thorne verhaftet wurde, nachdem er drei Frauen brutal gefoltert und ermordet hatte, gab es Spekulationen, du könntest zu seinen Opfern zählen. Wir haben die Polizei damals bekniet, uns mehr zu sagen, doch man wollte die Gerüchte weder bestätigen noch dementieren. Ebenso weigerte man sich, irgendeinen Kommentar dazu abzugeben, ob die Berichte über das, was Thorne seinen Opfern angeblich angetan hatte, der Wahrheit entsprachen oder nicht. Vielleicht haben wir das allzu bereitwillig als Beweis dafür interpretiert, dass die Geschichten aus der Luft gegriffen waren. Natürlich wollten wir unbedingt wissen, was dir zugestoßen war. Aber Jason Thorne – das wollten wir nicht.

Vor einigen Tagen hat Dad, veranlasst durch die jüngsten Schlagzeilen, erneut mit der Polizei gesprochen. Und wieder wurde weder etwas bestätigt noch abgestritten. Wieder greifen Mum und er nach jedem Strohhalm, um auch weiterhin glauben zu können, dass es nie eine Verbindung zwischen dir und Thorne gegeben hat. Ich habe den Verdacht, dass sie es vor allem mir zuliebe tun, weil sie mich nicht verunsichern wollen. Aber ihre Strategie geht nicht auf.

Die Möglichkeit, dass Thorne dich entführt haben könnte, erscheint mir heute wesentlich plausibler als damals. In der Presse wird behauptet, es lägen konkrete Beweise dafür vor, dass ihr miteinander telefoniert habt. Weiter heißt es, Thorne habe zu all seinen Opfern zuerst den persönlichen Kontakt gesucht, ehe er ihnen nachstellte und sie schließlich verschleppte. Wenn das stimmt, muss die Polizei die ganze Zeit davon gewusst haben. Und doch hat sie es uns gegenüber nie zugegeben.

»Willst du mich nicht bei dir haben?«, fragt Luke.

Gedanken an Jason Thorne haben in der Nähe deines Sohnes nichts zu suchen.

»Luke«, setze ich an.

Er hört an meinem Tonfall, dass mich irgendetwas beschäftigt, auch wenn ich mich damit beruhige, dass er unmöglich wissen kann, was es ist. Er läuft im Kreis herum und wirbelt mit den Füßen die Blätter auf. Gestern Mittag hat es geregnet, doch das Laub ist schon wieder trocken. »Du willst mich nicht«, sagt er.

Luke, ermahnst du mich. Konzentrier dich auf Luke.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. »Natürlich will ich dich. Ich wollte dich von Anfang an.«

Denk nicht an meine Augen, sagst du.

Aber alles ist ein Auslöser. Ich brauche nur Lukes dunkles Haar zu sehen, das unserem von der Farbe her so ähnlich ist, und schon stelle ich mir vor, wie Thorne deine Haare anfasst, wie er sich eine schwarze, seidige Strähne um den Finger wickelt.

Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dir ein anderes Bild suchen sollst?

Ich gebe mir wirklich Mühe, aber an Luke gibt es fast nichts, was keine Erinnerungen an dich weckt. Dann mustere ich sein Gesicht, und mir fällt sein honiggoldener Teint auf. Luke wird in der Sonne tatsächlich braun. Bei dir, Mum, Dad und mir wird die Haut immer nur krebsrot, bevor sie sich abschält.

Das muss das Erbe des Geheimnisvollen Fremden sein. So habe ich Lukes Vater einmal genannt, weil ich dich ärgern wollte. Ich wollte dich provozieren, damit du endlich etwas über ihn preisgibst. Aber deine einzige Reaktion darauf war ein Blick, bei dem ich das Gefühl hatte, an Ort und Stelle verdampfen zu müssen.

»Granny, Grandpa und ich teilen dich gern. Das war immer schon so«, sage ich. »Und so hat es deine Mummy auch gewollt, das weißt du. Sie hat es sogar in ihrem Testament festgehalten, weil sie sicherstellen wollte, dass du bei uns bleiben kannst. Sie hat alles ganz genau geregelt, als du noch in ihrem Bauch warst.«

Luke rümpft die Nase, um seine Verachtung zum Ausdruck zu bringen. »In ihrem Bauch? Ich bin zehn, nicht zwei, Tante Ella.«

»Entschuldige. Als sie mit dir schwanger war.«

Aber wieso? Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir diese Frage stelle. Was hat dich dazu bewogen, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt dein Testament zu machen? Wolltest du einfach nur verantwortungsbewusst sein? Ist das ganz normal, wenn man ein Kind erwartet? Oder steckte mehr dahinter? Hattest du Angst, du könntest die Geburt nicht überleben, selbst wenn die Müttersterblichkeit in diesem Land noch so gering sein mag? Nein, das hättest du mir erzählt. Es muss noch einen anderen Grund für dein plötzlich gestiegenes Sicherheitsbedürfnis gegeben haben. Jason Thorne ist nicht die einzig mögliche Antwort auf die Frage, was damals in deinem Leben vorging.

Luke wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum und schnipst mit den Fingern. »Hallo, hallo. Jemand zu Hause?«

Offene Fragen hin oder her – ich sage ihm etwas, wovon ich mit absoluter Sicherheit weiß, dass es wahr ist. »Das war nur eins von den vielen Dingen, die zeigen, wie sehr sie dich geliebt hat und wie wichtig es ihr war, dass es dir gut geht. Aber was die Frage deines Wohnorts betrifft – das ist kompliziert. So eine Entscheidung können wir beide nicht allein treffen.«

Ich sage ihm nicht, wie schmerzlich unsere Eltern ihn vermissen würden. Er muss nicht alles wissen, höre ich dich murmeln.

Er grinst auf eine Art, die mir signalisieren soll, dass er glaubt, die Diskussion mit dem nächsten Argument gewinnen zu können – und dass er sich diebisch auf den Moment freut, in dem mir genau das klar werden wird. »Wenn ihr mich sowieso teilt, dann macht es doch eigentlich gar keinen Unterschied, wenn ich offiziell bei dir wohne statt bei Granny und Grandpa.«

»Stimmt.« Dazu fällt mir wirklich nichts mehr ein – vor allem, weil ich es wundervoll fände, ihn immer um mich zu haben. Ich lächle und füge noch hinzu: »Du wirst sicher später mal Anwalt.«

»Auf keinen Fall. Polizist. So wie Ted.« Er tritt jetzt energischer nach den Blättern. Feuer und Sonne und Frühling und Sommer wirbeln wild durcheinander. Von seinem eingeschlagenen Kurs bringt ihn das allerdings nicht ab. »Ich hab Granny und Grandpa schon gesagt, dass ich es so will. Sie haben gemeint, sie würden mit dir darüber reden. Sie haben auch gemeint, dass sie sich vielleicht vorstellen könnten, die Regelung zu ändern. Sie sind ja auch nicht mehr ganz jung, weißt du? Und Grandpa könnte wieder krank werden ...«

»Dein Grandpa hält den Rekord für die längste Remission in der Geschichte der Menschheit.«

»Okay.«

»Und Granny hat ruhig dagesessen und sich das alles angehört?«

»Kann sein, dass sie ein bisschen geweint hat.«

»Kann sein?«

»Also gut: Sie hat geweint. Sie wollte nur nicht, dass ich es mitkriege. Aber Grandpa fand, es wäre vielleicht wirklich besser, wenn ich bei jemandem aufwachse, der etwas jünger ist.«

Mit der Bemerkung wird Dad sich bei unserer Mutter so richtig in die Nesseln gesetzt haben. Ich wette, danach hat sie stundenlang kein Wort mehr mit ihm geredet. Sie ist schon an guten Tagen nicht in der Lage, offen und direkt zu kommunizieren, und bei einem solchen Thema will sie sich mit Sicherheit gar nicht erst auf eine Diskussion einlassen. Bestimmt hat sie darauf spekuliert, dass sich das Problem früher oder später in Luft auflöst, wenn sie es mir gegenüber nicht erwähnt.

»Wenn das so ist, dann machen wir es natürlich«, sage ich. »Wir reden darüber.« Er sieht mich nicht an. »Könntest du bitte mal kurz stehen bleiben, Luke?«

Ich höre ein Rascheln zwischen den Bäumen am Waldrand, gefolgt von einem leichten Windstoß, der mir die Haare erst aus dem Gesicht weht, um sie dann ganz sanft wieder auf meine Schultern sinken zu lassen.

Luke hat nichts bemerkt, deshalb kommen mir Zweifel an meinem Bauchgefühl, das mir sagt, dass wir nicht allein sind. Seit ich dich verloren habe, stelle ich mir oft vor, irgendwo könnte ein Mann lauern, der Luke und mich aus dem Verborgenen heraus beobachtet. Wenigstens kann es nicht Jason Thorne sein. Der sitzt im Maßregelvollzug in einer Klinik für forensische Psychiatrie.

Ich halte mich dicht in Lukes Nähe, nur für den Fall, dass wirklich jemand hier herumschleicht. Als das Rascheln zwischen den Bäumen lauter wird, dreht Luke sich danach um. Jetzt weiß ich, dass ich wirklich etwas gehört habe. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und stelle mich, das Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt, breitbeinig hin.

Ein Reh steckt den Kopf aus dem Unterholz, reckt seinen weißen Hals und betrachtet uns mit aufgestellten Ohren. Es scheint zu überlegen, ob es lieber den Rückzug antreten soll. Dann trifft es eine Entscheidung und springt mit zwei langen, fast fliegenden Sätzen an uns vorbei über die Lichtung, ehe es auf der anderen Seite wieder zwischen den Bäumen verschwindet.

»Wow«, haucht Luke.

»Was für ein schönes Tier. Granny würde sagen, dass es ein Segensgruß war. Ein Augenblick der Gnade – so würde sie es ausdrücken.«

»Das muss ich unbedingt Grandpa erzählen«, sagt Luke.

Ich streiche ihm die Haare glatt. »Bist du jetzt zufriedener?« Er nickt. »Und magst du mir auch sagen, weshalb du plötzlich darüber nachdenkst, bei wem du leben möchtest?«

»Ich will nächstes Jahr in Bath aufs Gymnasium gehen. Warum war Granny überhaupt mit mir beim Tag der offenen Tür, wenn sie mir nicht erlauben will, die Schule zu wechseln? Sie hat gesagt, dass meine Meinung auch zählt, aber ich kriege nur einen Platz, wenn sie deine Adresse als meinen Wohnsitz angibt.«

»Ist am Montag nicht Bewerbungsschluss?«

»Ja. Und Granny sagt die ganze Zeit, sie würde noch darüber nachdenken. Ich finde, ich sollte das selber bestimmen dürfen.«

»Richtig, aber zusammen mit uns, Luke. Alles andere wäre auch zu viel von dir verlangt – so eine Entscheidung bedeutet eine große Verantwortung, das kannst du noch nicht allein. Es ist sonst nicht Grannys Art, die Dinge bis zur letzten Minute aufzuschieben. Wenn sie es also tut, liegt das vermutlich daran, dass sie sich die Sache vorher noch einmal ganz gründlich durch den Kopf gehen lassen will. Ich spreche gleich nach dem Frühstück mit den beiden – ich sehe ja ein, dass die Zeit drängt.«

(Continues…)


Excerpted from "Die zweite Schwester"
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Copyright © 2017 Claire Kendal.
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Table of Contents

Die Autorin / Das Buch,
Titelseite,
Impressum,
Ende November,
Samstag, 29. Oktober,
Montag, 31. Oktober,
Freitag, 4. November,
Samstag, 5. November,
Montag, 7. November,
Dienstag, 8. November,
Mittwoch, 9. November,
Donnerstag, 10. November,
Freitag, 11. November,
Samstag, 12. November,
Sonntag, 13. November,
Montag, 14. November,
Dienstag, 15. November,
Mittwoch, 16. November,
Donnerstag, 17. November,
Freitag, 18. November,
Samstag, 19. November,
Dienstag, 14. Februar,
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