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Overview

Ein Serienkiller findet seine Opfer über die Dating-App Tinder. Die Osloer Polizei hat keine Spur. Der einzige Spezialist für Serientäter, Harry Hole, unterrichtet an der Polizeihochschule, weil er mehr Zeit für seine Frau Rakel und ihren Sohn Oleg haben möchte. Doch Holes alter Chef Mikael Bellmann kennt Olegs Vergangenheit und setzt Hole unter Druck. Der Kommissar gibt schließlich nach und arbeitet hochkonzentriert mit seinen Leuten an dem Fall. In einer Atmosphäre der Angst zögern viele Frauen, sich weiter über die App zu verabreden. Die schlimmsten Befürchtungen werden wahr, als tatsächlich eine weitere junge Frau verschwindet, ausgerechnet eine Kellnerin aus Holes Stammlokal. Und der Kommissar kann nicht länger die Augen davor verschließen, dass der Mörder für ihn kein Unbekannter ist.

"Der unumstrittene König des skandinavischen Kriminalromans."
The Times
Das Warten hat ein Ende: Der neue Harry Hole ist da! Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!


Product Details

ISBN-13: 9783843714822
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/15/2017
Series: Ein Harry-Hole-Krimi , #11
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 624
File size: 4 MB
Language: German

About the Author

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.


Günther Frauenlob, geb. 1965, arbeitet seit 1995 als literarischer Übersetzer aus dem Norwegischen und Dänischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen Jo Nesbö, Jörn Lier Horst, Lars Mytting, Line Holm & Stine Bolther uvm. Günther Frauenlob lebt in Waldkirch bei Freiburg i. Brsg. und auf der norwegischen Insel Hidra.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Mittwochabend

Die Jealousy Bar war beinahe leer, und doch war die Luft drinnen zum Schneiden.

Mehmet Kalak beobachtete den Mann und die Frau, die am Tresen saßen, während er ihnen Wein einschenkte. Vier Gäste insgesamt. Der dritte saß allein an einem Tisch und trank winzige Schlucke von seinem Bier, und vom vierten sah er nur die Spitzen der Cowboystiefel, die aus einer der seitlichen Nischen des Lokals ragten. In dem schwachen Lichtschein über dem Tisch leuchtete hin und wieder ein Handydisplay auf. Vier Gäste, und das im September, abends um halb zwölf in der besten Kneipengegend Grünerløkkas. So durfte das nicht weitergehen. Manchmal fragte er sich ernsthaft, was ihn geritten hatte, seinen Job als Barchef in einem der angesagtesten Hotels der Stadt aufzugeben, um dieses heruntergekommene Lokal mit seiner versoffenen Klientel zu übernehmen. Hatte er wirklich geglaubt, er müsse nur die Preise anheben, um die alten Gäste durch bessere Kundschaft ersetzen zu können? Mittdreißiger aus dem Viertel mit viel Geld und wenig Problemen. Oder hatte er nach der Trennung einfach einen Ort gesucht, an dem er sich zu Tode arbeiten konnte? Vielleicht war der ausschlaggebende Punkt am Ende einfach das verlockende Angebot des Kredithais Danial Banks gewesen, nachdem bereits alle Banken abgewunken hatten. Oder die Tatsache, dass er in der Jealousy Bar ganz allein über die Musik bestimmen konnte und nicht irgendein bescheuerter Hotelchef, für den nur das Klingeln der Kasse Musik war. Zumindest war es ihm gelungen, die alten Stammgäste loszuwerden, sie hatten Zuflucht in einer billigen Kneipe drei Straßen weiter gefunden. Vielleicht musste er, um an neue Gäste zu kommen, sein Konzept noch einmal überdenken. Möglicherweise reichte ein Fernseher mit dem türkischen Fußballkanal nicht, um sich Sportsbar nennen zu können. Und was die Musik anging, musste er vielleicht mehr auf Mainstream setzen, U2 und Springsteen für die Männer und Coldplay für die Frauen.

»Ich hatte ja noch nicht so viele Tinder-Dates«, sagte Geir und stellte das Weinglas wieder auf den Tresen. »Trotzdem habe ich schon gemerkt, dass da eine Menge merkwürdiger Leute unterwegs ist.«

»Ach ja?«, sagte die Frau und unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte blonde, kurze Haare. Mitte dreißig, dachte Mehmet. Schnelle, etwas hektische Bewegungen. Müde Augen. Vermutlich arbeitete sie zu viel und versuchte das dann mit ebenso viel Sport zu kompensieren, um zu entspannen und wieder zu Kräften zu kommen. Wohl ohne Erfolg, dachte Mehmet und beobachtete, wie Geir das Glas mit drei Fingern am Stiel hielt, genau wie die Frau. Bei all seinen Tinder-Dates hatte er konsequent dasselbe bestellt wie die Frau, mit der er gekommen war. Von Whisky bis zu grünem Tee. Bestimmt wollte er damit signalisieren, wie gut sie auch in diesem Punkt zueinanderpassten.

Geir räusperte sich. Es waren sechs Minuten vergangen, seit die Frau die Kneipe betreten hatte, und Mehmet wusste, dass Geir jetzt zur Sache kommen würde.

»Du bist viel schöner als auf deinem Profilbild, Elise«, sagte er.

»Sagtest du bereits, aber trotzdem danke.«

Mehmet spülte ein Glas und tat so, als hörte er nicht zu.

»Sag mal, Elise, was erwartest du vom Leben?«

Sie lächelte etwas herablassend. »Einen Mann, der nicht nur auf das Äußere fixiert ist.«

»Wie recht du hast, ich bin ganz deiner Meinung, Elise, die inneren Werte zählen.«

»Das war ein Scherz. Ich bin auf meinem Profilbild viel attraktiver als in Wirklichkeit, und ich würde mal sagen, dass das auch auf dich zutrifft, Geir.«

»Hmm«, sagte Geir, lachte überrumpelt und starrte in sein Weinglas. »Ist doch ganz normal, dass man ein Foto nimmt, auf dem man gut getroffen ist. Du suchst also einen Mann. Was für einen Mann?«

»Einen, der gerne auch mal mit drei Kindern zu Hause bleibt.« Sie sah auf die Uhr.

»Haha.« Geir begann zu schwitzen. Sein glattrasierter Schädel glänzte bereits. Bald würden sich die ersten Schweißflecken auf seinem schwarzen Hemd abzeichnen, Schnitt Slimfit. Seltsam eigentlich, da er weder slim noch fit war. Er drehte das Glas in der Hand. »Elise, du hast genau meinen Sinn für Humor, auch wenn mir mein Hund im Moment als Familie reicht. Magst du Tiere?«

Tanrim, dachte Mehmet, er redet sich um Kopf und Kragen.

»Ob eine Frau die Richtige ist, spüre ich. Hier ... und hier ...« Er lächelte, senkte die Stimme und zeigte auf seinen Schritt. »Aber was das angeht, muss man ja erst einmal überprüfen, ob es auch stimmt. Oder was meinst du, Elise?«

Mehmet schüttelte sich innerlich. Geir setzte alles auf eine Karte und fuhr die Sache wieder einmal mit Vollgas gegen die Wand.

Die Frau schob das Weinglas zur Seite und beugte sich etwas zu Geir hinüber, so dass Mehmet sich anstrengen musste, ihre Worte zu verstehen.

»Kannst du mir eins versprechen, Geir?«

»Natürlich.« Sein Blick und seine Stimme hatten etwas Erwartungsvolles, als wäre er ein bettelnder Hund.

»Dass du, wenn ich jetzt gehe, nie wieder versuchst, Kontakt zu mir aufzunehmen?«

Mehmet konnte Geir nur dafür bewundern, dass er sich noch ein Lächeln abrang.

»Natürlich.«

Die Frau lehnte sich wieder zurück. »Nicht weil du wie ein Stalker wirkst, Geir, aber ich habe schon mal schlechte Erfahrungen gemacht, weißt du. Ein Typ hat mich hinterher verfolgt und sogar den Mann bedroht, mit dem ich später zusammen war. Ich hoffe, du verstehst, dass ich ein bisschen vorsichtig geworden bin.«

»Na klar.« Geir führte sein Glas an den Mund und leerte es. »Wie gesagt, da sind einige verdammt merkwürdige Leute unterwegs. Aber du musst keine Angst haben, dir passiert nichts. Statistisch gesehen ist das Risiko, ermordet zu werden, für einen Mann viermal höher als für eine Frau.«

»Danke für den Wein, Geir.«

»Sollte einer von uns dreien«, Mehmet gab sich Mühe, rasch wegzusehen, als Geir auf ihn zeigte, »heute Abend ermordet werden, stehen die Chancen, dass du das bist, eins zu acht. Oder Moment, da hab ich noch nicht einberechnet, dass ...«

Sie stand auf. »Ich hoffe, du kommst noch drauf, Geir. Leb wohl.«

Noch eine ganze Weile, nachdem sie gegangen war, starrte Geir in sein Weinglas und nickte im Takt zur Musik, als wollte er Mehmet und allen möglichen weiteren Zeugen signalisieren, dass er längst über die Sache hinweg und diese Frau nicht mehr als ein dreiminütiger Popsong war, der ebenso schnell auch wieder in Vergessenheit geriet. Dann stand er auf, ohne sein Glas noch einmal zu berühren, und ging. Mehmet sah sich um. Die Cowboystiefel und der Typ, der quälend langsam sein Bier getrunken hatte, waren verschwunden. Er war allein. Plötzlich bekam er auch wieder Luft. Mit dem Handy wechselte er die Playlist und stellte endlich seine Musik an. Bad Company. Mit Musikern von Free, Mott the Hoople und King Crimson, einfach nur gut. Und mit Paul Rodgers als Leadsänger sowieso. Mehmet drehte die Lautstärke so hoch, dass die Gläser hinter dem Tresen zu klirren begannen.

Elise ging die Thorvald Meyers gate hinunter. Rechts und links erhoben sich dreistöckige Häuser. Früher war das mal eine billige Arbeitergegend in einem der ärmsten Viertel einer armen Stadt gewesen. Heute kostete hier der Quadratmeter dasselbe wie in London oder Stockholm. September in Oslo. Die Dunkelheit war endlich zurück und die langen, irritierend hellen Sommernächte mit dem hysterisch-munteren Treiben bis zum nächsten Sommer Geschichte. Im September zeigte Oslo wieder seinen wahren Charakter: melancholisch, zurückhaltend, effizient. Eine solide Fassade, aber nicht ohne dunkle Ecken und Geheimnisse. Wie sie selbst. Sie beschleunigte ihre Schritte. Regen hing in der Luft, Nebel. Als würde Gott niesen, wie eine ihrer Männerbekanntschaften gesagt hatte. Wohl in dem Versuch, poetisch zu sein. Sie sollte diese Tinder-Scheiße wirklich lassen. Morgen. Es reichte. Sie hatte genug von Kneipen und geilen Kerlen, unter deren Blicken sie sich immer wie eine Nutte fühlte. Genug von verrückten Psychopathen und Stalkern, die sich festsaugten wie Zecken, ihr Zeit und Energie raubten, sie verunsicherten. Genug von all den erbärmlichen Verlierern, in deren Nähe sie sich fühlte wie eine von ihnen.

Es hieß, Onlinedating sei das Nonplusultra, um jemanden kennenzulernen, und dass man sich dafür längst nicht mehr schämen müsse, da das ja alle täten. Aber das stimmte nicht. Menschen trafen einander auf der Arbeit, im Lesesaal der Uni, bei Freunden, beim Training, in Cafés, im Flugzeug, Bus, Zug. Sie begegneten sich, wie es sich gehörte, entspannt, ohne Druck, mit einer romantischen Illusion von Unschuld, Reinheit, in einer Laune des Schicksals. Sie wollte diese Illusion, wollte ihr Tinder-Konto löschen. Das hatte sie sich schon oft vorgenommen, aber dieses Mal würde sie es wirklich tun. Noch an diesem Abend.

Sie überquerte die Sofienberggata, nahm den Schlüssel heraus und schloss die Haustür gleich neben dem Gemüseladen auf. Sie öffnete sie, trat in den dunklen Flur und blieb wie angewurzelt stehen.

Da standen zwei.

Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie erkennen konnte, was die beiden machten. Ihre Hosenställe waren offen, und sie hielten ihre Schwänze in der Hand.

Sie wich nach hinten zurück, ohne sich umzudrehen, hoffte im Stillen, dass niemand hinter ihr stand.

»Verfluchtscheißeohsorry!« Der seltsame Ausruf, Fluch und Entschuldigung in einem, kam von einer jungen Stimme, achtzehn, vielleicht zwanzig, tippte Elise. Und ganz sicher nicht nüchtern.

»Ey!«, rief der andere. »Du pisst auf meine Schuhe.«

»Ich hab mich erschreckt.«

Elise schlug den Mantel enger um sich und lief eilig an den jungen Männern vorbei, die sich wieder zur Wand gedreht hatten. »Das ist kein Pissoir hier!«, schimpfte sie.

»Sorry, war dringend. Wird nicht wieder vorkommen.«

Geir hastete in Gedanken über die Schleppegrells gate. Es stimmte nicht, dass bei zwei Männern und einer Frau das Risiko für die Frau, ermordet zu werden, bei eins zu acht lag, so einfach war die Rechnung nicht. Warum musste alles immer so kompliziert sein?

Er war an der Romsdalsgata vorbeigelaufen, als ihn irgendetwas bewog, sich umzudrehen. Etwa fünfzig Meter hinter ihm ging ein Mann. Er war sich nicht ganz sicher, aber war das nicht der Typ, der auf der anderen Straßenseite das Schaufenster betrachtet hatte, als er aus der Jealousy Bar herausgekommen war? Geir legte einen Zahn zu und lief nach Osten in Richtung Dælenenga und Schokoladenfabrik. Es war kein Mensch auf der Straße, aber an der Haltestelle stand ein Bus. Vermutlich war er etwas zu früh dran und musste warten. Geir sah sich um. Der Typ war noch immer hinter ihm, in gleichbleibendem Abstand. Geir hatte Angst vor dunkelhäutigen Menschen, das war von Anfang an so gewesen, dabei konnte er den Mann gar nicht richtig erkennen. Sie waren dabei, den weißen, gentrifizierten Bereich des Viertels zu verlassen und näherten sich den Sozialwohnungen mit den Massen von Ausländern. Geir sah bereits das Haus, in dem er wohnte. Hundert Meter noch. Als er sich wieder umdrehte, bemerkte er, dass der Mann hinter ihm schneller lief. Aus Angst, einen traumatisierten, aus Mogadischu geflohenen Somalier hinter sich zu haben, begann auch Geir zu rennen. Er war seit Jahren nicht mehr so schnell gelaufen, und bei jedem Schritt hämmerte es in seinem Kopf. Er erreichte sein Ziel, fand auf Anhieb das Schlüsselloch, schlüpfte ins Haus und warf die schwere Tür hinter sich zu. Keuchend lehnte er sich gegen das feuchte Holz, seine Beinmuskulatur brannte. Er drehte sich um und warf einen Blick durch das kleine Glasfenster in der Haustür, das sich auf Augenhöhe befand. Er sah niemanden. Vielleicht war das ja gar kein Somalier gewesen. Geir musste lachen. Verdammt, wie schreckhaft man werden konnte, wenn man über Mord redete. Oder hatte es damit zu tun, was Elise über diesen Stalker gesagt hatte?

Geir war noch immer außer Atem, als er seine Wohnungstür aufschloss. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, sah, dass das Küchenfenster offen war, und schloss es. Dann ging er in sein Arbeitszimmer und schaltete die Lampe ein.

Er drückte eine Taste auf der Tastatur des PCs, und der große 20-ZollBildschirm erwachte.

Er setzte sich davor, tippte »Pornhub« und »French« ins Suchfeld, suchte die Fotos durch, bis er eines mit einer Frau fand, die Elises Haarfarbe und Frisur hatte. Die Wohnung hatte dünne Wände, so dass er sich die kleinen PC-Kopfhörer in die Ohren steckte, bevor er das Bild anklickte, die Hose aufmachte und über die Knie nach unten zog. Die Frau ähnelte Elise so wenig, dass Geir irgendwann die Augen schloss und sich auf das Stöhnen konzentrierte, während er gleichzeitig versuchte, an Elises schmalen, etwas strengen Mund, ihren höhnischen Blick und die korrekte, aber trotzdem sexy Bluse zu denken. Nur so konnte er sie haben. Sonst niemals.

Geir hielt inne. Öffnete die Augen. Ließ seinen Schwanz los und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare in dem kalten Luftzug, der durch die Tür drang, aufstellten. Er war sich ganz sicher, die Tür geschlossen zu haben. Er hob die Hand, um die Ohrstöpsel rauszuziehen, wissend, dass es zu spät war. Viel zu spät.

Elise legte die Sicherheitskette vor, streifte im Flur die Schuhe ab und fuhr wie gewohnt mit dem Zeigefinger über das Foto von sich und ihrer Nichte Ingvild, das im Rahmen des Spiegels klemmte. Sie wusste nicht wirklich, warum sie das tat, es war ihr einfach ein tiefes Bedürfnis, genau wie sie sich immer wieder die Frage stellte, was eigentlich nach dem Tod mit den Menschen geschah. Sie ging ins Wohnzimmer ihrer kleinen, gemütlichen Zweizimmerwohnung und legte sich aufs Sofa. Warf einen Blick auf ihr Handy. Eine SMS von der Arbeit. Die Sitzung am nächsten Morgen war abgesagt. Sie hatte dem Typ, den sie gerade getroffen hatte, nicht gesagt, dass sie als Anwältin für Vergewaltigungsopfer arbeitete. Und dass die Statistik, dass Männer häufiger ermordet wurden, nicht stimmte. Bei sexuell motivierten Morden waren Frauen viermal häufiger die Opfer. Genau deshalb hatte sie gleich nach ihrem Einzug das Schloss ausgewechselt und die Sicherheitskette montieren lassen, mit deren Mechanismus sie noch immer zu kämpfen hatte, wenn sie die Kette vorlegen oder lösen wollte.

Sie öffnete Tinder. Drei der Männer, die sie am frühen Abend markiert hatte, hatten reagiert. Genau das war das Faszinierende an diesem Spiel. Es ging nicht darum, sie zu treffen, sondern zu wissen, dass es sie irgendwo dort draußen gab und dass diese Männer sie wollten. Sollte sie sich einen letzten kleinen Flirt gönnen? Einen letzten virtuellen Dreier mit ihren noch verbliebenen Kandidaten, ehe sie ihr Konto und die App endgültig löschte?

Nein. Jetzt löschen.

Sie öffnete das Menü, tippte die entsprechenden Befehle ein und wurde zu guter Letzt gefragt, ob sie ihr Konto wirklichendgültig löschen wollte.

Elise starrte auf ihren Zeigefinger. Er zitterte. Mein Gott, war sie inzwischen abhängig? Abhängig von dem Kick, dass da draußen jemand war, der sie wollte, ohne zu wissen, wer oder wie sie war? Sie kannten alle nur ihr Profilbild. War sie tatsächlich abhängig oder nur angetriggert? Das würde sie herausfinden, wenn sie ihr Konto jetzt löschte und sich fest vornahm, einen Monat ohne Tinder auszukommen. Einen Monat. Wenn sie das nicht schaffte, lief wirklich etwas grundverkehrt mit ihr. Der zitternde Finger näherte sich der Delete-Taste.

Und wenn sie abhängig war? Wäre das so schlimm? Wir wollen doch alle begehrt werden und jemanden haben. Sie hatte gelesen, dass ein Säugling sogar sterben konnte, wenn er nicht ein Minimum an Hautkontakt bekam. Sie bezweifelte zwar, dass das stimmte, fragte sich andererseits aber auch, was der Sinn des Lebens war, wenn es nur aus Arbeit bestand, die einen auffraß, und ein paar sogenannten Freunden, die sie nur aus Pflichtgefühl traf oder weil die Angst vor der Einsamkeit sie mehr quälte als das ewige Gejammer dieser Menschen über Kinder, Männer oder die Abwesenheit von mindestens einem davon. Und vielleicht war ihr Traummann ja gerade jetzt bei Tinder? Also, okay, eine letzte Runde. Das erste Bild, das aufpoppte, wischte sie nach links in den Mülleimer, in das Feld »Dich will ich nicht«. Ebenso das zweite. Und das dritte.

Ihre Gedanken kreisten in immer weiteren Bahnen. Sie war bei dem Vortrag eines Psychologen gewesen, der engen Kontakt zu einigen der schlimmsten Sexualverbrecher des Landes hatte. Er hatte berichtet, dass Männer für Sex, Geld und Macht töteten, Frauen hingegen aus Eifersucht und Angst.

Sie hielt inne. Das schmale Gesicht auf dem Bildschirm kam ihr irgendwie bekannt vor, auch wenn es unterbelichtet und etwas unscharf war. Es wäre nicht das erste Mal, Tinder brachte auch Leute zusammen, die sich räumlich ganz nah waren. Und laut Tinder war dieser Mann weniger als einen Kilometer entfernt. Vielleicht wohnte er sogar im gleichen Viertel. Das unscharfe Bild bedeutete, dass der Betreffende die Tips für die beste Tinder-Taktik ignoriert hatte, was an sich ein Pluspunkt war. Der Text bestand aus einem einfachen »Hallo«. Kein Versuch, besonders aufzufallen. Nicht gerade phantasievoll, aber selbstbewusst. Ja, es würde ihr definitiv gefallen, wenn ein Mann auf einer Party zu ihr käme, sie mit festem Blick ansehen, einfach nur »Hallo« sagen und damit die unausgesprochene Frage stellen würde: »Bist du bereit, weiterzugehen?«

(Continues…)



Excerpted from "Durst"
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