Forscher aus Leidenschaft: Gedanken eines Vernunftmenschen

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Overview

In unvernünftigen Zeiten ist Richard Dawkins' unnachgiebiges Plädoyer für die Vernunft aktueller und dringender denn je. Der Evolutionsbiologe und Bestsellerautor reflektiert in seinem neuen Buch über die Werte, die Geschichte und die gesellschaftliche Bedeutung von Wissenschaft. Dabei greift er Themen wie die Wissenschaft als Religion und die Schönheiten, Grausamkeiten, aber auch Kuriositäten unserer Welt auf. Von der Evolution der Schildkröte über Jesus und den Atheismus bis hin zu intelligenten Außerirdischen: Stets legt Dawkins komplexe Sachverhalte mit poetischer Leichtigkeit dar. Die in diesem Band versammelten Reden, Aufsätze und Briefe aus den letzten vier Jahrzehnten geben einen faszinierenden Einblick in das Werk eines überragenden Denkers.


Product Details

ISBN-13: 9783843718387
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 10/12/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 528
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

About The Author
Richard Dawkins, 1941 geboren, ist Evolutionsbiologe. Von 1995 bis 2008 hatte er den Lehrstuhl für Public Understanding of Science an der Universität Oxford inne. Sein Buch Das egoistische Gen gilt als zentrales Werk der Evolutionsbiologie. Seine Streitschrift Der Gotteswahn ist ein Bestseller.
Das egoistische Gen gilt als zentrales Werk der Evolutionsbiologie. Seine Streitschrift Der Gotteswahn ist ein Bestseller.

Dr. Sebastian Vogel, geb. 1955 in Berlin. Ich habe in Heidelberg und Köln Biologie studiert und das Studium 1985 mit der Promotion abgeschlossen. Danach war ich zunächst als Journalist und Autor tätig, ab 1987 als wissenschaftlicher und literarischer Übersetzer. Seither habe ich über 200 Titel – vorwiegend Sachbücher – für verschiedene deutschsprachige Verlage aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Seit 2003 lebe und arbeite ich in Kerpen.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Wert(e) der Wissenschaft

Wir beginnen beim Kern der Sache: der Wissenschaft. Was ist sie, was macht sie, wie betreibt man sie (am besten)? Der Vortrag, den Richard 1997 bei den Oxford Amnesty Lectures hielt, trug den Titel »Die Werte der Wissenschaft und die Wissenschaft der Werte«. Mit dieser Verschränkung der Begriffe deckte er ein riesiges Terrain ab und verfolgte mehrere Themen, die in der vorliegenden Sammlung an anderer Stelle weiterentwickelt werden: den überragenden Respekt der Wissenschaft für objektive Wahrheit, das moralische Gewicht, das der Leidensfähigkeit beigemessen wird, und die Gefahren des »Speziesismus«, die wichtige Unterscheidung, »ob man mit rhetorischen Mitteln deutlich machen will, was nach eigener Überzeugung wirklich der Fall ist, oder ob man sich der Rhetorik bedient, um das, was wirklich der Fall ist, wissentlich zu verschleiern«. Das ist die Stimme des Wissenschaftsvermittlers, der entschlossen daran festhält, sich der Sprache zu bedienen, um die Wahrheit mitzuteilen, und nicht, um eine künstliche »Wahrheit« zu erschaffen. Schon der allererste Absatz trifft eine wichtige Unterscheidung: Das eine sind die Werte, die der Wissenschaft zugrunde liegen, ein stolzes, kostbares System von Prinzipien, die es zu verteidigen gilt, weil von ihnen der Fortbestand unserer Zivilisation abhängt; ein ganz anderes, verdächtigeres Unternehmen sind die Versuche, Werte aus wissenschaftlichen Kenntnissen abzuleiten. Wir müssen den Mut haben, uns einzugestehen, dass wir von einem ethischen Vakuum ausgehen, dass wir unsere eigenen Werte erfinden.

Der Autor dieses Vortrags ist kein faktenverhafteter Gradgrind, kein trockener Erbsen-(oder Knochen-)zähler. Die Passagen über den ästhetischen Wert der Wissenschaft, die poetische Vision eines Carl Sagan, Subrahmanyan Chandrasekhars »Erschaudern vor dem Schönen« sind Musterbeispiele für Leidenschaft und Begeisterung angesichts der Pracht, der Schönheit und der Möglichkeiten einer Wissenschaft, Freude in unser Leben und Hoffnung in unsere Zukunft zu bringen.

Anschließend wechseln wir sowohl das Tempo als auch die Plattform, und die Sprachebene verschiebt sich vom Ausführlichen, Nachdenklichen zum Prägnanten und Pointierten, das heißt zu dem, was ich mir gern als »Dawkins-Pfeil« vorstelle. Hier verfolgt Richard mit eiserner Höflichkeit mehrere Aussagen weiter, die er in seinem Amnesty-Vortrag vertreten hat: Er erinnert Großbritanniens nächsten Monarchen daran, wie gefährlich es ist, sich nicht von evidenzbasierter Wissenschaft, sondern von einer »inneren Weisheit« leiten zu lassen. Wie es für ihn typisch ist, entbindet er die Menschen nicht davon, ihr Urteilsvermögen im Hinblick auf die Möglichkeiten einzusetzen, die Wissenschaft und Technologie bieten: »Die hysterische Opposition wegen möglicher Risiken gentechnisch manipulierter Nutzpflanzen hat den beunruhigenden Aspekt, dass sie die Aufmerksamkeit von den tatsächlichen Gefahren ablenkt, die bereits gut bekannt sind, aber im Wesentlichen ignoriert werden.«

»Wissenschaft und Sensibilität«, der dritte Aufsatz in diesem Abschnitt, ist wiederum ein ausführlicher Vortrag, der mit einer charakteristischen Kombination aus Bedeutungsschwere und Brillanz gehalten wurde. Auch hier erleben wir eine messianische Begeisterung für Wissenschaft – die aber durch die nüchterne Betrachtung der Frage gedämpft wird, wie weit wir zur Jahrtausendwende hätten kommen können und welche Strecken wir noch nicht zurückgelegt haben. Wie es für ihn typisch ist, wird dies nicht als Rezept für Verzweiflung präsentiert, sondern als Ansporn zu verdoppelten Anstrengungen.

Und woher kommt all diese unstillbare Neugier, dieser Hunger nach Wissen, diese kämpferische Leidenschaft? Der Abschnitt schließt mit »Dolittle und Darwin«, einem liebevollen Rückblick darauf, wie die Werte der Wissenschaft in die Erziehung eines Kindes eingeflossen sind – einschließlich einer Lektion zur Unterscheidung zwischen zentralen Werten und ihrer vorübergehenden historischen und kulturellen Färbung.

In allen diesen ganz unterschiedlichen Texten stechen die Kernaussagen deutlich hervor. Es ist nicht gut, den Überbringer der Nachricht zu erschießen, nicht gut, sich illusorischen Tröstungen hinzugeben, nicht gut, das Ist mit dem Sollte zu verwechseln oder mit dem, was uns vielleicht lieb wäre. Letztlich sind es positive Aussagen: Die klare, nachhaltige Konzentration auf die Frage, wie Dinge funktionieren, führt in Verbindung mit der intelligenten Fantasie des unheilbar Neugierigen zu Erkenntnissen, die inspirieren, herausfordern und anregen. So entwickelt sich Wissenschaft immer weiter, das Verständnis wächst, die Kenntnisse erweitern sich. Zusammengenommen bilden diese Texte ein Manifest der Wissenschaft und einen Aufruf, für sie zu kämpfen.

G. S.

Die Werte der Wissenschaft und die Wissenschaft der Werte

Die Werte der Wissenschaft – was bedeutet das? In einem schwachen Sinn meine ich damit – und ich werde sie wohlwollend betrachten – die Werte, von denen man erwarten kann, dass Wissenschaftler sie vertreten, soweit sie durch ihren Beruf beeinflusst sind. Es gibt aber auch einen starken Sinn: Danach werden wissenschaftliche Kenntnisse unmittelbar benutzt, um Werte abzuleiten wie aus einem heiligen Buch. Werte in diesem Sinn lehne ich nachdrücklich ab. Das Buch der Natur mag als Quelle von Werten, nach denen man leben kann, nicht schlechter sein als ein traditionelles heiliges Buch, aber das hat nicht viel zu sagen.

Mit der Wissenschaft der Werte – der anderen Hälfte meines Titels – meine ich die wissenschaftliche Erforschung der Frage, woher unsere Werte stammen. Von sich aus sollte das eine wertfreie, akademische Frage sein, die nicht automatisch stärker umstritten ist als die Frage, woher unsere Knochen stammen. Man könnte damit zu der Schlussfolgerung gelangen, dass unsere Werte unserer Evolutionsvergangenheit nichts verdanken, aber das ist nicht die Schlussfolgerung, die ich ziehen werde.

Die Werte der Wissenschaft im schwachen Sinn

Ich bezweifle, dass Wissenschaftler ihre Partner oder die Steuerbehörden seltener (oder häufiger) betrügen als andere Menschen. In ihrem Berufsleben dagegen haben Wissenschaftler besondere Gründe, die einfache Wahrheit zu schätzen. Grundlage ihres Berufes ist die Überzeugung, dass es so etwas wie eine objektive Wahrheit gibt, die über kulturelle Unterschiede hinausgeht; wenn demnach zwei Wissenschaftler die gleiche Frage stellen, gelangen sie unabhängig von ihren vorgegebenen Überzeugungen, ihrer kulturellen Herkunft und innerhalb gewisser Grenzen auch ihrer Fähigkeiten zu der gleichen Antwort. Dem widerspricht auch die häufig wiederholte philosophische Überzeugung nicht, dass Wissenschaftler keine Wahrheiten beweisen, sondern Hypothesen vertreten, die sie nicht widerlegen konnten. Der Philosoph mag uns davon überzeugen, dass unsere Fakten nur unwiderlegte Theorien sind, aber bei manchen Theorien würden wir unser letztes Hemd darauf verwetten, dass man sie nie widerlegen wird; solche Theorien bezeichnen wir dann in der Regel als wahr. Verschiedene Wissenschaftler werden sich selbst dann, wenn geografisch und kulturell Welten zwischen ihnen liegen, in der Regel auf die gleichen nicht widerlegten Theorien einigen.

Eine solche Weltsicht ist meilenweit entfernt von modischem Geplapper wie dem Folgenden:

So etwas wie eine objektive Wahrheit gibt es nicht. Wir machen uns unsere eigene Wahrheit. So etwas wie eine objektive Wirklichkeit gibt es nicht. Wir machen uns unsere eigene Wirklichkeit. Es gibt spirituelle, mystische oder innere Möglichkeiten des Wissens, die unseren gewöhnlichen Möglichkeiten des Wissens überlegen sind. Wenn ein Erlebnis wirklich zu sein scheint, dann ist es wirklich. Wenn einem eine Idee richtig vorkommt, dann ist sie richtig. Wir sind außerstande, Wissen über das wahre Wesen der Wirklichkeit zu gewinnen. Die Wissenschaft an sich ist irrational oder mystisch. Sie ist nur irgendein Glaube, Glaubenssystem oder Mythos, der nicht mehr gerechtfertigt ist als irgendein anderer. Es spielt keine Rolle, ob Anschauungen wahr sind oder nicht, solange sie für jemanden von Bedeutung sind.

In dieser Richtung liegt der Wahnsinn. Am besten kann ich die Werte eines Wissenschaftlers verdeutlichen, indem ich sage: Wenn eine Zeit kommt, in der alle so denken, möchte ich nicht mehr weiterleben. Dann sind wir in ein neues dunkles Mittelalter eingetreten, allerdings nicht in eines, »das durch das Licht einer pervertierten Wissenschaft noch düsterer und länger wurde« – denn dann gäbe es keine Wissenschaft mehr, die man pervertieren könnte.

Ja, Newtons Gravitationsgesetz ist nur näherungsweise richtig, und vielleicht wird auch Einsteins Allgemeine Theorie zu gegebener Zeit überflüssig gemacht. Aber dadurch steigen sie nicht in die gleiche Liga ab wie die mittelalterliche Hexenkunst oder der Aberglaube von Stammesvölkern. Newtons Gesetze sind Näherungslösungen, denen wir unser Leben anvertrauen können und regelmäßig anvertrauen. Wenn es um eine Flugreise geht, würde unser kultureller Relativist auf Levitation oder auf Physik setzen, auf den fliegenden Teppich oder auf McDonnell Douglas? Ganz gleich, in welchem Kulturkreis wir aufgewachsen sind, das Bernoulli-Prinzip wird nicht auf einmal unwirksam, wenn wir in den nicht»westlichen« Luftraum eintreten. Oder worauf würden Sie Ihr Geld verwetten, wenn es darum ginge, eine Beobachtung vorherzusagen? Wie Carl Sagan erklärt hat, könnten wir die Barbaren von Relativismus und New Age nach Art eines modernen Rider-Haggard-Helden verblüffen, indem wir eine totale Sonnenfinsternis, die sich in tausend Jahren ereignen wird, auf die Sekunde genau vorhersagen.

Carl Sagan ist vor einem Monat gestorben. Ich bin nur einmal mit ihm zusammengetroffen, aber ich mag seine Bücher und werde ihn als »Kerze in der Dunkelheit« vermissen. Ich widme diesen Vortrag seinem Andenken und werde Zitate aus seinen Schriften verwenden. Die Bemerkung über die Vorhersage von Sonnenfinsternissen stammt aus The Demon-Haunted World (dt. Der Drache in meiner Garage), dem letzten Buch, das vor seinem Tod erschien. Dort fährt er fort:

Sie können zum Medizinmann gehen, damit er den Zauber aufhebt, der Ihre perniziöse Anämie verursacht, oder Sie können Vitamin B nehmen. Wenn Sie Ihr Kind vor Kinderlähmung bewahren wollen, können Sie beten oder es zur Schluckimpfung schicken. Wenn Sie wissen wollen, welches Geschlecht Ihr ungeborenes Kind hat, können Sie natürlich alle möglichen spiritistischen Pendler konsultieren ... aber sie haben im Durchschnitt eben nur zu fünfzig Prozent recht. Wenn Sie echte Genauigkeit haben wollen ..., versuchen Sie es mit Fruchtblasenpunktion und Ultraschall. Probieren Sie es mit der Wissenschaft.

Natürlich sind Wissenschaftler häufig unterschiedlicher Meinung. Aber sie sind stolz darauf, dass sie sich darüber einigen können, welche neuen Belege notwendig wären, damit sie ihre Ansichten ändern. Der Weg zu jeder Entdeckung wird veröffentlicht, und wer die gleiche Route einschlägt, sollte zu den gleichen Ergebnissen gelangen. Wer lügt – wer Abbildungen türkt oder nur den Teil der Befunde veröffentlicht, die für eine bevorzugte Schlussfolgerung sprechen –, wird wahrscheinlich entlarvt. Ohnehin wird man mit Wissenschaft nicht reich – warum also sollte man es überhaupt tun, wenn man doch durch Lügen den einzigen Sinn des Unternehmens hinfällig macht? Ein Wissenschaftler wird gegenüber seiner Partnerin oder einem Steuerfahnder mit viel größerer Wahrscheinlichkeit lügen als gegenüber einer Fachzeitschrift.

Zugegeben: Es gibt auch in der Wissenschaft Fälle von Betrug, und zwar wahrscheinlich nicht nur die, welche ans Licht kommen. Ich behaupte nur, dass die Verfälschung von Daten in der Wissenschaftlergemeinde die Ursünde ist, und sie ist so unverzeihlich, dass es sich in die Begriffe jedes anderen Berufes kaum übertragen lässt. Diese extreme Wertschätzung hat die unglückselige Folge, dass Wissenschaftler einen außerordentlich großen Widerwillen dagegen haben, Kollegen anzuschwärzen, wenn Grund zu dem Verdacht besteht, dass Zahlen gefälscht wurden. Es ist, als würde man jemanden des Kannibalismus oder des Kindesmissbrauchs beschuldigen. Ein derart düsterer Verdacht wird unterdrückt, bis die Belege so überwältigend sind, dass man sie nicht mehr ignorieren kann, und dann ist unter Umständen bereits viel Schaden angerichtet. Wenn wir unsere Spesenabrechnung frisieren, werden die Kollegen wahrscheinlich Nachsicht zeigen. Wenn wir den Gärtner bar bezahlen und damit die Schwarzarbeit zum Nachteil der Steuerbehörden unterstützen, werden wir gesellschaftlich nicht ausgestoßen. Aber ein Wissenschaftler, der bei der Manipulation seiner Forschungsergebnisse erwischt wird, ist ein Ausgestoßener. Er wird von seinen Kollegen geschnitten und gnadenlos für alle Zeiten aus dem Berufsstand verbannt.

Wenn ein Anwalt sich seiner Beredsamkeit bedient, um seine Sache selbst dann so gut wie möglich zu vertreten, wenn er nicht daran glaubt, und wenn er zu diesem Zweck nur günstige Tatsachen nennt und Indizien manipuliert, wird er wegen seines Erfolges bewundert und belohnt. Ein Wissenschaftler, der das Gleiche tut, alle rhetorischen Register zieht, sich in jede Richtung windet und wendet, um Unterstützung für eine Lieblingstheorie zu gewinnen, wird im Vergleich zumindest mit leichtem Misstrauen betrachtet.

Im typischen Fall sehen die Werte der Wissenschaftler so aus, dass der Vorwurf, jemand sei ein Fürsprecher – oder, noch schlimmer, ein geschickter Fürsprecher –, einer Antwort bedarf. Es ist aber ein wichtiger Unterschied, ob man mit rhetorischen Mitteln deutlich machen will, was nach eigener Überzeugung wirklich der Fall ist, oder ob man sich der Rhetorik bedient, um das, was wirklich der Fall ist, wissentlich zu verschleiern. Einmal trat ich an einer Universität in einer Podiumsdiskussion über Evolution auf. Der eindrucksvollste kreationistische Redebeitrag stammte von einer jungen Frau, die zufällig beim anschließenden Abendessen neben mir saß. Als ich ihr Komplimente für ihren Vortrag machte, erklärte sie mir sofort, sie habe selbst kein Wort davon geglaubt. Sie hatte nur ihre Geschicklichkeit im Diskutieren geübt und dazu leidenschaftlich das genaue Gegenteil dessen vertreten, was sie für die Wahrheit hielt. Sie wird zweifellos eine gute Anwältin abgeben. Ich konnte nun nichts anderes mehr tun, als gegenüber meiner Tischnachbarin höflich zu bleiben, aber das sagt etwas über die Werte aus, die ich mir als Wissenschaftler in meiner bisherigen Laufbahn angeeignet habe.

Eigentlich möchte ich damit sagen, dass Wissenschaftler eine Werteskala besitzen, nach der die Wahrheit der Natur fast etwas Heiliges hat. Das mag der Grund sein, warum manche von uns so hitzig auf Astrologen, Löffelbieger und ähnliche Scharlatane reagieren, die von anderen nachsichtig als harmlose Unterhaltungskünstler toleriert werden. Der Verleumdungsparagraf bestraft denjenigen, der wissentlich Lügen über andere Menschen verbreitet. Wer aber Geld damit verdient, dass er Lügen über die Natur verbreitet – die keine Klage erheben kann –, kommt ungeschoren davon. Meine Werte mögen verschroben sein, aber ich würde es begrüßen, wenn die Natur vor Gericht ebenso vertreten würde wie ein misshandeltes Kind.

Die Wahrheitsliebe hat aber auch eine Kehrseite: Sie kann Wissenschaftler dazu veranlassen, ihr ungeachtet aller unglücklichen Konsequenzen zu folgen. Wissenschaftler tragen eine große Verantwortung, die Gesellschaft vor solchen Konsequenzen zu warnen. Von dieser Gefahr sprach Einstein, als er sagte: »Wenn ich es vorher gewusst hätte, wäre ich Schlosser geworden.« Natürlich wäre er in Wirklichkeit nicht Schlosser geworden. Und als sich die Gelegenheit bot, unterschrieb er den berühmten Brief, in dem er Roosevelt vor den Möglichkeiten und Gefahren der Atombombe warnte. Teilweise ist die Feindseligkeit, die Wissenschaftlern entgegengebracht wird, gleichbedeutend mit der Ermordung des Nachrichtenüberbringers. Wenn Astronomen uns auf einen großen Asteroiden aufmerksam machen, der sich auf Kollisionskurs zur Erde befindet, wäre es vor dem Einschlag der letzte Gedanke vieler Menschen, es sei die Schuld »der Wissenschaftler«. Ein Element der Ermordung des Überbringers steckt auch in unserer Reaktion auf BSE. Anders als im Fall des Asteroiden lag die Schuld hier wirklich bei den Menschen. Einen Teil davon müssen Wissenschaftler auf sich nehmen, einen anderen die Landwirtschafts- und Lebensmittelindustrie mit ihrer Habgier.

Carl Sagan stellt dazu fest, er werde häufig gefragt, ob er an intelligentes Leben im Weltraum glaube. Er neigt zu einem zurückhaltenden Ja, das er aber voller Vorsicht und Unsicherheit ausspricht.

Oft werde ich dann gefragt: »Und was glauben Sie wirklich?«

Ich erwidere: »Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, was ich wirklich denke.«

»Ja, schon, aber was glauben Sie aus dem Bauch heraus?«

Aber ich versuche nicht mit dem Bauch zu denken. Wenn ich ernsthaft die Welt verstehen will, dann bekomme ich wahrscheinlich Probleme, wenn ich mit etwas anderem als meinem Gehirn denken will, so verlockend dies sein könnte. Es ist wirklich okay, so lange mit dem Urteil zu warten, bis die Beweise vorliegen.

(Continues…)


Excerpted from "Forscher Aus Leidenschaft"
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