Gänseblümchen sterben einsam: Roman

Gänseblümchen sterben einsam: Roman

by Regina Meißner
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by Regina Meißner

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Overview

Eine Geschichte über Verlust, Trauer und die Fähigkeit, zu vertrauen: »Gänseblümchen sterben einsam«  - ein einfühlsamer Young-Adult-Roman von Regina Meißner.

Als der Bruder der 17-jährigen Moira stirbt, versinkt sie in tiefer Trauer. Ihre Familie droht zu zerbrechen, da auch die Eltern über den Verlust ihres geliebten Sohnes nicht hinwegkommen und Moira darüber vernachlässigen. Da tritt Ryan in ihr Leben - ein fremder Junge, Skater wie ihr Bruder, und in einem Wohnwagen lebend. In kleinen Schritten gelingt es Ryan, dass Moira sich ihm öffnet und über ihre Gefühle spricht. Doch kann sie ihm wirklich vertrauen?

 


Product Details

ISBN-13: 9783492983938
Publisher: Piper Gefühlvoll
Publication date: 03/01/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 292
File size: 1 MB
Age Range: 14 - 18 Years
Language: German

About the Author

Regina Meißner wurde im März 1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren, in der sie noch heute lebt. Nach dem Abitur hat sie im Jahr 2012 ein Studium in den Fächern Germanistik und Anglistik begonnen. Neben dem Schreiben liest und fotografiert sie sehr gern. Außerdem ist sie als Bloggerin unterwegs und mag es, Zeit mit ihrem Dackel im Wald zu verbringen.

Regina Meißner wurde im März 1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren, in der sie noch heute lebt. Nach dem Abitur hat sie im Jahr 2012 ein Studium in den Fächern Germanistik und Anglistik begonnen. Neben dem Schreiben liest und fotografiert sie sehr gern. Außerdem ist sie als Bloggerin unterwegs und mag es, Zeit mit ihrem Dackel im Wald zu verbringen.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Vier Tage ohne dich

Beerdigungen laufen meist nach demselben Schema ab. Angehörige, Freunde und Bekannte des Toten versammeln sich, der Priester hält eine Predigt, der Leichnam wird in die Erde gelassen und Beileidsbekundungen werden ausgesprochen. Tränen, Schmerz und Kummer sind überall. Menschen brechen zusammen, werden wieder aufgehoben, nur um erneut in ihrer eigenen Trauer zu versinken. Eine Orgel spielt melancholische Musik, Bilder erinnern an das Leben des Toten. Manchmal gibt es Reden von Familienmitgliedern. Und die Blumen. So viele Blumen, die dem Verstorbenen mitgegeben werden auf seine letzte Reise. Als ob man da unten, zwischen Würmern und Käfern, noch Pflanzen braucht.

Eigentlich ist es auf Liams Beerdigung nicht anders. Meine Mutter weint sich die Augen aus dem Kopf, als der Leichnam in die Erde gelassen wird. Mir haben schon Dutzende Menschen die Hand geschüttelt. Von den meisten weiß ich nicht mal, wer sie sind. Eben wurde in der Kapelle ein herzzerreißendes Lied gespielt.

Es ist ähnlich, und doch ist es so anders.

Vielleicht liegt es an den zwei Frauen, die in der letzten Reihe gesessen und miteinander getuschelt haben. Vielleicht liegt es an dem Priester, in dessen Predigt es nicht um eine körperliche Krankheit und einen langen Leidensweg ging.

Vielleicht liegt es daran, dass sich Liam umgebracht hat.

Auch wenn es niemand öffentlich zugeben würde, geht man mit Selbstmördern anders um. Möglicherweise nicht gewollt, eher intuitiv. Dennoch wird das Thema mit Samthandschuhen angefasst. Niemand sagt wirklich, was er darüber denkt. Niemand spricht das aus, was er heimlich glaubt.

Selbstmörder sind die Seltsamen, die Skurrilen und Abstrusen. Die, die über etwas entschieden haben, was uns nicht zusteht. Aber stimmt das? Heißt es nicht immer, wir sind freie Menschen und dürfen frei bestimmen? Warum dann nicht über unser Leben?

Liam war nicht krank. Zumindest nicht körperlich. Er litt nicht unter einem physischen Malheur, ganz im Gegenteil: Er war kerngesund. Stand mit beiden Beinen im Leben. Und doch hat er sich aus diesem verabschiedet. Weil er aus irgendeinem Grund nicht mehr wollte.

»Es tut mir so leid für dich, Moira.«

Vor mir steht eine ältere Dame mit einem gigantischen fliederfarbenen Hut. Dasist definitiv untypisch für eine Beerdigung. Um ihre Augen haben sich Krähenfüße gebildet, die Lippen zittern. Ich merke, dass sie kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. Reflexartig will ich ihr die Hand geben, aber sie ist schneller und drückt mich fest an sich. Mir bleibt die Luft weg, als ich ihr stechendes Parfüm rieche.

»Liam war so ein toller Junge«, schluchzt sie. Ihr Körper bebt unter meinen Händen. Verzweifelt stehe ich da, zur Eissäule erstarrt. Erstens bin ich nicht gut im Umarmen, ich mag es nicht einmal. Zweitens habe ich keine Ahnung, wer diese Frau sein soll. Vielleicht eine entfernte Verwandte. Vielleicht eine Freundin meiner Mutter, die mich nur über das Telefon kennt. Wie die Tatsachen auch stehen, sie klammert sich an mir fest, als wäre sie diejenige, die bemitleidet werden muss.

Endlich löst sie sich von mir und zieht geräuschvoll die Nase hoch.

»Es muss schlimm sein, seinen Bruder zu verlieren«, schluchzt sie. Ihre Wimperntusche ist verlaufen und dass sie sich mit der Hand über die Augen wischt, macht es nicht besser. »Ich weiß noch, wie er damals auf meinem Schoß saß, ein kleines Bündel, das so viel Liebe ...«

Hilfe suchend sehe ich mich nach jemandem um, der mich aus der Misere befreien kann. Meine Mutter steht rechts von mir, aber sie ist zu beschäftigt, um sich um meine Nöte zu kümmern. Zu beschäftigt mit ihrem eigenen Kummer. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie zittert. Seit Tagen ist sie nun in diesem Zustand. Dem Zustand zwischen nach außen vorgespielter Stärke und vollkommenem innerem Zusammenbruch.

Ich seufze leise.

Die alte Frau vor mir kramt nach einem Taschentuch. Ich nutze den Augenblick, in dem sie in ihren Stoffbeutel schaut, und entferne mich geräuschlos. Dies ist nicht unbedingt die feine Art, aber an der Beerdigung meines Bruders darf ich so etwas.

Mein Blick schweift über die Anwesenden, die sich in einem Kreis vor dem Grab versammelt haben. Eben in der Kapelle habe ich sie gezählt, daher weiß ich, dass es genau dreiunddreißig sind. Wenig für eine Beerdigung, viel für einen Selbstmord? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Liam mehr verdient hat. Dreiunddreißig Menschen sind bei Weitem nicht genug, um ihm gerecht zu werden. Selbst wenn die ganze Welt von Liam erfahren würde, wäre das noch nicht genug.

In einem stillen Moment entferne ich mich von den Anwesenden, suche mir eine freie Bank und lasse mich darauf sinken. Aus der Ferne betrachtet sieht das Ganze anders aus. Es kommt mir nicht so nah vor, wirkt unpersönlich. Beinahe so, als würden die Leute nicht um meinen Bruder, sondern um einen Unbekannten trauern. Für einen Moment gebe ich mich der Illusion hin.

Das Loch, in das sie eben den Leichnam gelassen haben, ist nun mit Erde bedeckt. Ein Holzkreuz wird bald symbolisieren, wessen Leiche unter dem Gras liegt. Friedhöfe haben bei näherer Betrachtung etwas Beunruhigendes an sich. Jeder Schritt, den man tut, ist ein Schritt über Tote.

Auf einmal wird mir kalt. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und presse die Lippen aufeinander. Eigentlich sollte man im Mai nicht mehr frieren, aber ich bin klug genug, um zu wissen, dass die Kälte in mir ist und nichts mit der Sonne zu tun hat, die ausgerechnet heute fehlt. Ein Zeichen? Vielleicht auch nur ein schlechter Scherz.

Als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, zucke ich zusammen und drehe mich nach hinten um. Mein Vater steht im Schatten der Bank und lächelt mich an. Es ist die Art von Lächeln, die es erst seit Liams Tod gibt. Vorsichtig, zerbrechlich.

»Hier hast du dich versteckt«, sagt er und streicht mir über den Kopf, so wie er es manchmal getan hat, als ich noch ein kleines Kind gewesen bin. Früher hat mir seine Berührung ein wohliges Gefühl verursacht, heute löst es eine unangenehme Gänsehaut in mir aus. Aber jetzt sage ich nichts dagegen, sondern bemühe mich um ein Lächeln.

»Ich wollte ein bisschen Abstand gewinnen«, sage ich leise und lasse den Blick über die Trauergäste schweifen. Ich höre, wie mein Vater seufzt. Eine Sekunde später sitzt er neben mir auf der Bank. Sein Blick ist starr geradeaus gerichtet, sodass ich mich spontan frage, ob er mir absichtlich nicht in die Augen schauen will.

In letzter Zeit kommen mir die Haare meines Vaters grauer vor, das Gesicht nicht mehr mit ganz so sorglosem Ausdruck wie früher.

»Deine Mutter hält sich gut«, murmelt er in diesem Moment. Schon will ich etwas entgegensetzen, aber ich schweige. Vielleicht ist es besser, meinen Vater in dem Glauben zu lassen, dass seine Frau damit klar kommt. Vielleicht ist es seine Art, damit klarzukommen.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre auf das Gras unter mir. Es kommt mir zu grün vor für einen Tag in Schwarz. Ich würde meinen Vater gern fragen, wie lange es noch dauert. Wann ich endlich wieder nach Hause und mich in meinem Zimmer verkriechen kann. Denn genau da fühle ich mich am wohlsten. Aber als ich ihn mustere und an seiner unterdrückten Trauer beinahe ersticke, halte ich den Mund.

Nervös knetet er die Hände in seinem Schoß. Der Schweißfilm auf seiner Stirn wird immer größer. Gern würde ich etwas Intelligentes sagen. Etwas, das ihm den Schmerz wegnimmt. Irgendetwas, um dieser Situation nicht länger schweigend begegnen zu müssen. Aber da gibt es nichts. Es ist nicht so, dass mir nichts einfällt. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass es da einfach nichts gibt. Also verschränke ich meine Hände und zähle die Anwesenden erneut. Die ersten sind schon nach Hause gegangen, daher hege ich die Hoffnung, dass es auch bei uns nicht mehr so lange dauern wird.

»Kommst du klar, Mole?«

Noch bevor ich über die Frage nachdenke, nicke ich. Das liegt an einer stillen Abmachung, die ich mit mir selbst getroffen habe. Ich breche nicht zusammen. Ich falle meinen Eltern nicht zur Last. Ich mache das mit mir selbst aus.

»Irgendwann kommen bessere Zeiten«, seufzt mein Vater und fährt sich durch das schüttere Haar. Ich nicke erneut, auch wenn ich seine Worte anzweifle. Wie kann es jemals besser werden, wenn Liam nicht mehr da ist? Er hat die Sonne in unser Leben gebracht, war das Lieblingskind meiner Eltern. Nie würde ich an ihrer Liebe zu mir zweifeln, aber mein Bruder war derjenige, der sie glücklich gemacht hat.

»Daran müssen wir glauben. Irgendwann kommt eine Zeit ...« Er bricht ab und vergräbt den Kopf zwischen seinen Händen, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann. Kurz darauf wird er von Schluchzern geschüttelt. Ich würde gern etwas für ihn tun, aber alles in mir ist wie lahmgelegt. Daher warte ich ab, bis er sich selbst wieder zusammengerissen hat.

Liam hat sich aus tausenden Facetten zusammengesetzt, ich habe nie alle erfassen können. Jetzt ist er nur noch ein toter Körper unter der Erde. Stumm stehe ich vor seinem Grab, die Hände wie aus Reflex gefaltet, der Blick gesenkt. Die Trauergemeinde ist gegangen, einen Leichenschmaus wird es nicht geben. Darauf hat meine Mutter bestanden. Offiziell, damit nicht noch mehr Kosten auf uns zukommen. Ich weiß aber, dass der Leichenschmaus nach einer Beerdigung der erste Schritt zurück in die Realität ist und so weit ist meine Mutter noch nicht. Sie will sich noch ein wenig in ihrer Trauer vergraben.

»Papa und ich gehen schon mal zum Auto«, flüstert sie mir in diesem Moment zu. Ich nicke abwesend.

Kurze Zeit später bin ich allein an Liams Grab.

Es fällt mir so schwer, den unpersönlichen Haufen Erde vor mir mit meinem Bruder zu vergleichen.

Nein, es fällt mir nicht schwer.

Ich kann es nicht.

Liam war der, der nachts immer zu spät heimgekommen ist, sodass ich mich aus meinem Bett schleichen und ihm öffnen musste.

Liam war der, der mich aufmuntern konnte, als ich mich mit Delilah gestritten habe.

Liam war der, der als Kind das Gemüse in der Waschmaschine versteckt hat, damit er es nicht essen musste.

Das alles – und noch viel mehr ist Liam.

Der Haufen Erde vor mir hat nichts mit ihm zu tun.

Als mir diese Erkenntnis kommt, wende ich mich ohne einen weiteren Blick ab und gehe zu unserem Auto. Mein Vater sitzt bereits hinter dem Steuer. An den Augen meiner Mutter erkenne ich, dass sie weint. Seufzend öffne ich die Hintertür und lasse mich auf den Sitz plumpsen. Auf der gesamten Rückfahrt sagt niemand von uns ein Wort.

Früher bin ich immer gern nach Hause gekommen, weil ich es mit Liebe und einem warmen Gefühl verbunden habe. Jetzt hat sich einiges geändert. Mit Liam ist auch die Sonne verschwunden. Ohne ihn wirken die Räume beengter, die Wände scheinen näher zu kommen und das Gefühl, ersticken zu müssen, ist omnipräsent. Nur in meinem Zimmer geht es mir halbwegs gut. Besonders schlimm ist es in der Küche, weil sie immer der Treffpunkt war. Hier haben wir nicht nur als Familie zusammen gegessen, sondern auch über unsere Sorgen und Nöte gesprochen. Die Küche ist der Ort, an dem meine Mutter uns Tee gekocht hat, als wir noch ganz klein waren und uns versicherte, dass alles ein gutes Ende nehmen würde. Heute fällt es mir schwer, daran zu glauben.

Als mein Vater die Tür aufgeschlossen hat, schiebe ich mich an ihm vorbei und laufe die Treppe hoch in mein Zimmer. Die Nachfrage meiner Mutter, ob ich etwas essen möchte, lasse ich unbeantwortet. In mir wächst der Drang, allein zu sein, mich zurückzuziehen und für eine Weile die Welt auszusperren. Sobald ich in meinem Zimmer bin, drehe ich den Schlüssel im Schloss um. Als Nächstes ziehe ich die Vorhänge zu. Das Licht draußen stört mich.

Erst als ich meine unbequeme Kleidung abgeworfen habe und in meinen grauen Schlafanzug geschlüpft bin, atme ich aus. Zentnerschwer fühle ich mich, als ich mich auf das Bett sinken lasse. Die Decke ist angenehm kühl, weswegen ich darunterkrieche. Ich ziehe sie mir bis zum Hals, dann starre ich nach oben, so wie ich es die letzten Tage dauernd getan habe.

Ich glaube, ich kenne meine Decke auswendig. Jedes kleine Loch und jede Unebenheit haben sich mir eingeprägt. Selbst jetzt, im Dunkeln, weiß ich, an welcher Stelle sich was befindet. Aber heute will ich nicht ewig im Bett liegen. Aus diesem Grund befreie ich mich schon Minuten später von der Decke und gehe zu meinem Schreibtisch, auf den ich gestern die weiße Kerze gestellt habe. Streichhölzer liegen daneben, nach denen ich nur greifen muss. Kurze Zeit später erhellt das Licht der Kerze den Raum. Ich nehme sie zwischen meine Finger und drapiere sie vor der Fotografie auf meinem Nachtschränkchen.

Liam,

denke ich und schaue direkt in seine stahlblauen Augen.

Ich weiß nicht, ob ich dich hassen oder um dich trauern soll. Es ist wohl eine Mischung aus beidem. Du hast mir einen riesigen Kloß im Hals beschert, der einfach nicht mehr verschwinden will, egal, was ich tue. Wegen dir kann ich nicht mehr schlafen, ohne dein Bild vor Augen zu haben. Aber es bist nicht du – nicht mein Bruder. Es ist ein Körper mit leerem Blick und seltsam verdrehten Armen, der am Grund des Belbony Rivers liegt. Ich habe dich nie tot gesehen, aber meine Fantasie beschert mir die schlimmsten Bilder.

Kraftlos sinke ich auf die Knie, sein Anblick noch immer in meinen Augen. Die Fotografie zeigt Liam an einem sonnigen Sommertag. Zusammen mit unseren Eltern sind wir ins Freibad gefahren, um schöne Stunden zu verleben. Liam grinst breit in die Kamera, hat die Arme in die Hüfte gestemmt. Das Wasser perlt von seinen blonden Haaren, die jenen Sommer etwas länger waren und ihm beinahe bis auf die Schulter reichten. Sein Oberkörper ist frei, er trägt eine blau gestreifte Badehose.

Ich habe unzählige Fotos von meinem Bruder. Und doch ist es dieses, das ich am liebsten mag, denn es ist die einzige Fotografie, die es geschafft hat, Liam genau so einzufangen, wie er war. Fröhlich, optimistisch und positiv.

Mit dem Finger streiche ich über das kalte Glas, fahre seine Konturen nach.

Es ist nicht fair, dass du mich allein lässt. Das weißt du hoffentlich! Du lässt mich und eine kaputte Familie im Stich. Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mich um alles kümmere, dass ich alles wieder ins Lot rücke, was du zerstört hast.

Mein ganzes Leben lang habe ich geglaubt, dass ich Liam kenne. Besser als irgendjemanden sonst. Er war mir näher als meine beste Freundin, näher als meine Eltern. Wir haben nicht nur die guten Zeiten miteinander geteilt, sondern auch die Tage, die von Schatten bevölkert waren. Liam war meine bessere Hälfte. Ohne ihn bin ich nicht mehr vollständig.

Ich bin mir sicher, dass du einen guten Grund hattest. Vielleicht hundert gute Gründe. Daher verurteile ich dich gar nicht dafür, was du getan hast. Ich verurteile dich dafür, wie du es getan hast. Still und heimlich, ohne ein einziges Wort! Liam, wann hast du angefangen, mir Dinge zu verschweigen? Habe ich mich verändert, dass du nicht mehr mit mir sprechen wolltest?

Meine Hände zittern, mein Herz klopft. Ich denke an die Notiz, die er hinterlassen hat. An den kleinen Zettel, den wir in seinem Zimmer gefunden haben.

Es tut mir so leid, aber es ist nötig. Irgendwann werdet ihr mich verstehen.

Ich presse meine Lippen aufeinander und versuche, auf andere Gedanken zu kommen. Doch mein Kopf ist schneller.

Ich fühle mich verraten. Erinnerst du dich an den Tag, als wir uns schworen, nie etwas vor dem anderen zu verheimlichen? Den Tag, als wir uns versprachen, immer für den anderen da zu sein? Ich habe es nicht vergessen – und ich war immer für dich da. Jede einzelne Sekunde. Warum habe ich dann nicht gemerkt, wie du mir entglitten bist? In letzter Zeit wirktest du so anders, viel verschlossener und in dich gekehrt – was hast du vor mir verheimlicht, Liam?

Manchmal denke ich, dass es leichter für mich gewesen wäre, wenn er unter einer Krankheit litt. Wenn sein Tod ein Unfall gewesen wäre. Er umgebracht worden wäre. Irgendetwas, das einen offensichtlichen Grund hat. Aber Liams Tod hätte verhindert werden können. Er war ein gesunder Mensch – und doch krank genug, um sich das Leben zu nehmen.

Ich hasse dich dafür, dass du mir Albträume bereitest. Ich hasse dich für die Momente am Morgen, in denen ich aufwache und eine Sekunde lang denke, dass alles in Ordnung ist, bevor die Realität auf mich niederprasselt. Ich hasse dich für das Skateboard, das unbenutzt herumsteht und auf dem niemand mehr fahren wird.

Ich hasse dich dafür, dass du mich zurückgelassen hast.

Das Haus ist still ohne ihn. Noch vor einer Woche war es erfüllt von seiner Stimme, seinen Erzählungen und Erlebnissen. Manchmal bilde ich mir ein, ihn noch in den Gängen zu hören.

Ich hasse dich für diese selbstsüchtige Tat. Liam, hast du nie daran gedacht, dass wir alle im selben Boot sitzen? Wolltest du uns wirklich so sehr verletzen?

Ich hasse dich dafür, dass mir meine Milch am Morgen nicht mehr schmeckt, weil ich daran denken muss, wie du einmal so sehr lachen musstest, dass dir alles aus dem Mund gespritzt ist.

Ich hasse dich dafür, dass mich nichts mehr freuen kann. Dass jeder schöne Moment von der grausamen Wahrheit überschattet wird, sobald sich meine Gedanken lichten.

(Continues…)


Excerpted from "Gänseblümchen Sterben Einsam"
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Excerpted by permission of Piper Verlag GmbH.
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Table of Contents

Cover & Impressum,
Prolog,
Kapitel 1 – Vier Tage ohne dich,
Kapitel 2 – Fünf Tage ohne dich,
Kapitel 3 – Sechs Tage ohne dich,
Kapitel 4 – Sieben Tage ohne dich,
Kapitel 5 – Acht Tage ohne dich,
Kapitel 6 – Zehn Tage ohne dich,
Kapitel 7 – Vierzehn Tage ohne dich,
Kapitel 8 – Siebzehn Tage ohne dich,
Kapitel 9 – Achtzehn Tage ohne dich,
Kapitel 10 – Neunzehn Tage ohne dich,
Kapitel 11 – Zwanzig Tage ohne dich,
Kapitel 12 – Dreiundzwanzig Tage ohne dich,
Kapitel 13 – Vierundzwanzig Tage ohne dich,
Kapitel 14 – Fünfundzwanzig Tage ohne dich,
Kapitel 15 – Ein Tag mit dir,
Kapitel 16 – Zwei Tage mit dir,
Kapitel 17 – Drei Tage mit dir,
Kapitel 18 – Vier Tage mit dir,
Kapitel 19 – Fünf Tage mit dir,
Kapitel 20 – Sechs Tage mit dir,
Kapitel 21 – Sieben Tage mit dir,
Kapitel 22 – Im Delirium Teil Eins,
Kapitel 23 – Im Delirium Teil Zwei,
Kapitel 24 – Im Delirium Teil Drei,
Kapitel 25 – Mittwoch,
Kapitel 26 – Donnerstag,
Kapitel 27 – Zwei Monate später,

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