Miss Daisy und der Tote im Chelsea Hotel: Kriminalroman

Miss Daisy und der Tote im Chelsea Hotel: Kriminalroman

Miss Daisy und der Tote im Chelsea Hotel: Kriminalroman

Miss Daisy und der Tote im Chelsea Hotel: Kriminalroman

eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

Miss Daisy in New York. Daisy Dalrymple reist mit ihrem frischgebackenen Ehemann Alec Fletcher von Scotland Yard nach Amerika. Im berühmten Chelsea Hotel in New York freundet Daisy sich mit einigen skurrilen Hotelgästen an. Bei einem Treffen mit dem Herausgeber des Magazins, für das sie schreibt, hört sie plötzlich einen Schuss – ein Reporter ist tot, doch der Täter kann entkommen. Mit ihren neuen Freunden mischt Daisy sich in die Ermittlungen ein. Eine Spur zum Mörder führt sie quer durch das Amerika der Roaring Twenties. Ein Kriminalfall aus den Goldenen Zwanzigern voll skurriler Figuren.

Product Details

ISBN-13: 9783841215055
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 05/18/2018
Series: Miss Daisy ermittelt , #10
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 288
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

About The Author

Carola Dunn wurde in England geboren und lebt heute in Eugene, Oregon. Sie veröffentlichte mehrere historische Romane, bevor sie die »Miss Daisy«-Serie zu schreiben begann.

Im Aufbau Taschenbuch sind folgende Titel erhältlich:

Miss Daisy und der Tote auf dem Eis
Miss Daisy und der Tod im Wintergarten
Miss Daisy und die tote Sopranistin
Miss Daisy und der Mord im Flying Scotsman
Miss Daisy und die Entführung der Millionärin
Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser
Miss Daisy und der tote Professor
Miss Daisy und der Mord im Museum
Miss Daisy und der Tote auf dem Luxusliner
Miss Daisy und der Tote im Chelsea Hotel
Miss Daisy und der Mord unter dem Mistelzweig.


Eva Riekert ist nach längerer Verlagstätigkeit als freischaffende Übersetzerin und Lektorin in erster Linie in den Bereichen Kinder- und Jugendliteratur und Junge Erwachsene tätig. Daneben übersetzt sie gelegentlich O-Töne für Dokumentarfilme im Bereich Jazz und Ökologie. Für Aufbau übersetzt sie Bücher von Carola Dunn und Kathryn Croft. Sie lebt derzeit in Berlin.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Ärgerlich erhobene Stimmen: Als Daisy das Ende der Seite erreichte und das Klappern der Tasten ihrer Schreibmaschine aufhörte, drangen sie als undeutliches Geräusch in die plötzliche Stille durch die Wand aus dem Zimmer nebenan.

Es war nicht das erste Mal. Offensichtlich war ihr Zimmernachbar kein versöhnlicher Mensch. Diesmal waren es zwei Männer und eine Frau, da war sich Daisy ziemlich sicher, aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts verstehen. Ging sie ja auch nichts an, ermahnte sie sich und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu.

Quietschend und unwillig gab die Remington zwei Bögen samt Kohlepapier frei. Daisy fächelte sich damit Luft zu. Da sie sich noch nicht an die Innentemperaturen gewöhnt hatte, die die New Yorker bevorzugten, und sie selbst mit prasselnden Kaminfeuern aufgewachsen war, durchmischt mit eisiger Zugluft, fand sie das Hotelzimmer erstickend heiß. Ihr Kampf mit dem störrischen Heizkörper war erfolgloser gewesen als der mit der Schreibmaschine, die sie vom Hotelmanagement zur Verfügung gestellt bekommen hatte.

Sehnsüchtig blickte sie zu den Balkonfenstern mit ihren verzierten Rosenholzrahmen, dann starrte sie ihre Schreibmaschine finster an. Das Chelsea Hotel war ein beliebter Zufluchtsort für Schriftsteller und auf ihre Bedürfnisse eingerichtet, doch die Remington pfiff auf dem letzten Loch. Daisy hatte den Verdacht, dass sie schon seit vierzig Jahren auf diesem Schreibtisch stand, nämlich seit 1883, als das Hotel erbaut worden war, und dass sie seitdem tagtäglich von mehr oder weniger geübten Fingern bearbeitet worden war. Sie knarrte und ächzte bei jeder Berührung und sperrte sich vehement gegen Großbuchstaben. Die Aussicht, den Kampf mit der garstigen Maschine erneut aufnehmen zu müssen, ließ sie in Schweiß ausbrechen.

Die Papierstapel neben der Schreibmaschine wurden immer höher. Mr. Thorwald hatte nur wenige Änderungen in ihrem Artikel über die Atlantiküberquerung gewünscht. Der Text war fertig getippt und konnte morgen abgeliefert werden. Mit dem Artikel über ihre ersten Eindrücke von Amerika kam sie gut voran. Sie hatte noch etwas Zeit.

Sie trat auf den Balkon. Die scharfe Kälte einer winterlichen Brise ließ sie frösteln. Der gelblich graue Himmel drohte Regen oder gar Schnee an, obwohl es noch nicht einmal ganz November war. Benzinschwaden, vermischt mit Staub, stiegen aus der West 23rd Street herauf, allerdings war der scharfe Geruch nach rußigem Kohlenrauch nicht so übermächtig wie im fernen London.

Daisy lehnte sich an das verschnörkelte gusseiserne Geländer und beobachtete eine Tram, die sieben Etagen unter ihr vorbeiratterte. Nicht eine Tram, eine Straßenbahn. Warum behaupteten die Amerikaner immer, sie würden Englisch sprechen, wo sie ihre Sprache doch genauso gut Amerikanisch hätten nennen können. Am seltsamsten war, dass ihr, einer Engländerin, die reinstes Oxfordenglisch sprach, immer gesagt wurde, sie habe einen drolligen Akzent!

Eine unmissverständlich amerikanische Stimme mischte sich in Daisys Überlegungen. Das Fenster des angrenzenden Zimmers stand einen Spalt offen. Die Stimme der Frau, die Daisy vorhin schon undeutlich gehört hatte, war jetzt glockenklar – nicht weich wie eine Kirchenglocke, nicht klingelnd wie die eines Pferdegeschirrs, sondern schriller als eine elektrische Hausklingel.

»Du Mistkerl!«, schrie sie giftig. »Nicht für eine Million Dollar würde ich zu dir zurückkommen.«

»Selbst wenn ich eine Million Dollar hätte«, erwiderte eine bissige männliche Stimme, eher sarkastisch als erzürnt, »würdest du keinen einzigen roten Heller aus mir herausquetschen.«

Ein anderer Mann sagte mit beruhigender, ziemlich nervöser Stimme etwas Unverständliches. Einen Augenblick später wurde eine Tür zugeschlagen.

Schuldbewusst gestand sich Daisy ein, dass nicht nur die überheizte Luft, sondern auch die Neugier sie nach draußen getrieben hatte. Rasch verschwand sie wieder in ihrem Zimmer. Hoffentlich hatte man nicht gesehen, wie sie vom Balkon aus gelauscht hatte. Da sie nicht herumsitzen und auf ein empörtes Klopfen an ihrer Tür warten wollte, beschloss sie, sich auf die Suche nach einer Tasse Tee zu machen. Schließlich war es schon nach vier Uhr. Die Prohibition hatte es mit sich gebracht, dass einige Amerikaner die Boston Tea Party inzwischen in anderem Licht sahen und fanden, dass sie die britische Sitte des Nachmittagstees durchaus übernehmen könnten. Es stimmte zwar, dass einige Amerikaner ohne die geringsten Schwierigkeiten an alkoholische Getränke kamen. Doch trotz seiner bohemehaften Gäste war das Chelsea ein respektables Etablissement, nicht zu vergleichen mit irgendwelchen Speakeasys, wie man die illegalen Lokale hier nannte, in denen heimlich Alkohol ausgeschenkt wurde. Mit ein wenig Glück waren unten eine Kanne Tee und vielleicht sogar ein paar Kekse – Cookies, wie es hier hieß – zu haben.

Als sie bei den Fahrstühlen ankam, ging das äußere Gitter der übernächsten Kabine gerade rasselnd zu. Sie beeilte sich, doch als sie ankam, war das innere Gitter ebenfalls geschlossen, und die Kabine fuhr bereits den Schacht hinunter, unter lautem Rattern und Jammern des betagten Motors. Ein Hauch von Haarwasserduft, teurem Zigarrenrauch und noch teurerem Parfüm blieb zurück. Daisy sah die Oberseite der Livreemütze des Fahrstuhlführers und hinter ihm den Kopf eines Mannes mit schütterem Haar sowie einen scharlachroten Glockenhut mit weißen Reiherfedern.

»Zu spät!«, rief sie. »Mist!« Andererseits, wenn das das Paar gewesen war, das sich im Zimmer nebenan gestritten hatte, war sie ganz froh, nicht mit ihnen eingesperrt zu sein.

Sie ging zu dem anderen Fahrstuhl zurück und drückte auf den Knopf, um ihn anzufordern.

Ein junges Zimmermädchen kam mit einem Arm voller Handtücher aus der Wäschekammer am Ende des Ganges. »Da müssen Sie ganz schön lange warten, denke ich mal, Miss«, bemerkte sie mit starkem irischen Akzent. Ihr karottenfarbenes Haar und ihre Sommersprossen erinnerten Daisy an ihre Stieftochter Belinda. Unerwartet heftig überfiel sie eine Welle Heimweh.

Sie lächelte dem Mädchen zu, das wahrscheinlich genauso großes Heimweh hatte, aus weit verständlicherem Grund. »Ist dieser hier denn außer Betrieb?«, fragte sie.

»Der Liftboy ist so ein kleiner, wilder Teufelskerl, Miss. Um diese Zeit scharwenzelt er wahrscheinlich herum, statt seinen Pflichten nachzukommen.«

»Na ja, ich nehme an, dass gerade nicht viel los ist und dass es schrecklich langweilig ist, den ganzen Tag in diesem Käfig rauf- und runterzufahren.«

Das Mädchen strahlte sie an. »Es ist mein kleiner Bruder, Miss. Er hat seit sechs Uhr früh Dienst. Ja, das ist hart für so einen quicklebendigen Jungen, aber er muss ja seinen Unterhalt verdienen und hat Glück, 'ne Arbeit zu haben.«

»Ich verrate nichts«, versprach ihr Daisy. »Ich hab's ja nicht direkt eilig. Vielleicht könnte ich auch die Treppe nehmen.«

»Lieber nicht, Miss, der Weg nach unten ist elend lang. Der zweite Lift kommt sicher gleich zurück, falls unser Kevin nicht doch noch auftaucht.«

Und tatsächlich, das Ächzen und Klappern von Seilen und Zahnrädern kündigte die bevorstehende Ankunft des geschmähten Kevin an. Daisy musste nur noch warten, bis sich die Kabine nach oben gekämpft hatte. Ein Mann kam den Gang entlang, um ebenfalls zu warten.

Das Zimmermädchen errötete, als es ihn sah, und verschwand eilig in der Wäschekammer.

Er wirkte kein bisschen wie ein Künstler. Er war so um die vierzig, trug einen hellgrauen Tweedanzug, einen schwarzen Homburg, in der einen Hand braune Lederhandschuhe und ein Aktenköfferchen in der anderen. Er war untersetzt, leicht o-beinig, und sein Gang war wichtigtuerisch. Er hatte das Kinn entschlossen vorgeschoben, und über seinem schmalen Schnurrbart saß eine lange Nase. Er sah Daisy so herausfordernd an, fast unverschämt, ja, zynisch abschätzig, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten.

Sie fragte sich, ob er wohl der Mann von nebenan war, ob er sie auf dem Balkon gesehen hatte und ob sie womöglich rot wurde wie das irische Mädchen. Hoffentlich nicht. Erröten war so schrecklich viktorianisch. Sie warf ihm einen hochmütigen und vernichtenden Blick zu, der ihrer Mutter, der Dowager Viscountess Dalrymple alle Ehre gemacht hätte, aber da hatte sich der unverschämte Kerl bereits abgewandt.

Er drückte auf die Ruftaste, unnötigerweise, denn das lärmende Nahen der Kabine war nicht zu überhören. Ungeduldig schob er das Gitter zum leeren Schacht auf, in dem lange Kabelschlaufen ihren trigonometrischen Aufgaben nachkamen. Oder anderen Aufgaben – auf Daisys Mädchenschule waren derlei mathematische Feinheiten nicht ernst genommen worden, aber sie erinnerte sich, Gervaise über die Schulter geschaut zu haben, wenn er stöhnend an seinen Hausaufgaben saß.

Das ganze Lernen war vergebens gewesen, dachte sie traurig. Ihr Bruder war in den Krieg gezogen statt auf die Universität, und die ganze Mathematik hatte ihn nicht vor dem Tod in den Schützengräben Flanderns bewahren können.

Mathematik würde auch diesem Hotelgast nichts nützen, wenn er in die Tiefe des Liftschachts stürzte, was nicht ganz unwahrscheinlich schien. Doch da zog er schnell den Kopf zurück. Der Lift kam an, geführt von einem Jungen, der vielleicht vierzehn Jahre alt war. Seine karottenfarbenen Haare und seine Sommersprossen ließen darauf schließen, dass es sich um Kevin handelte, seine tränenden Augen und ein rotes Ohr hingegen darauf, dass sein Fehlverhalten bestraft worden war.

Ungeachtet dessen sah er Daisy mit einem übermütigen Grinsen, das unregelmäßige Zähne entblößte, an und fragte: »Runter, Ma'am?«

Möglich, dass seine Worte den ungeduldigen Herrn an seine Manieren erinnerten. Er war schon losgestürmt, trat dann jedoch zurück und ließ Daisy mit einer ironisch angedeuteten Verbeugung den Vortritt.

»Wo kann ich einen Tee bekommen?«, fragte sie den Jungen, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte.

»In der Lobby, Mylady.« Er salutierte mit übertriebener Höflichkeit. Sein irischer Akzent war schon leicht vom New Yorker Näseln überlagert. »Stanley – das ist der Hotelpage, Mylady – nimmt Ihre Bestellung auf und lässt Ihnen den Tee bringen, Mylady.«

Er wirkte gleichzeitig naseweis und gutmütig. Daisy lachte. »Ich bin Engländerin«, gab sie zu, »aber nicht ›Mylady‹.«

»Können ja nicht alle was Besonderes sein«, sagte er mitfühlend. »Wollen Sie richtigen Tee? Richten Sie Stanley aus, dass Kevin gesagt habe, man solle den Tee schön stark machen, nicht so ein Spülwasser, das die Yankees Tee nennen.«

Der Mann hinter Daisy schnaubte abfällig. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er einen Flachmann aus der Tasche zog, aufschraubte und einen tiefen Zug nahm. Sie vermutete, dass es sich weder um Tee noch um Spülwasser handelte, denn sein Gesicht lief unkleidsam rot an.

Nicht, dass sie ihn eines Blickes würdigte. Die Genugtuung wollte sie ihm nicht geben. »Ich werde mir deinen Rat merken«, sagte sie lächelnd zu Kevin.

Er zwinkerte ihr zu. »Ich kann Ihnen auch das andere besorgen«, flüsterte er. »Nicht das schwarz gebrannte Zeug, sondern echten irischen Whiskey, direkt von der Grünen Insel.«

»Danke, nein.«

»Kein Risiko. Alle entscheidenden Leute wurden geschmiert.«

»Geschmiert?« Der Mann steckte seine lange Nase plötzlich zwischen Daisy und Kevin.

Der Liftboy sah ihn mit aufgerissenen Augen und unschuldsvoller Miene an. »Ham Se sich wohl verhört, Mister. Hab der Lady gerade erzählt, dass mein Bruder seinen Job verliert. Hat nämlich unten in den Docks gearbeitet.«

Es war offensichtlich, dass der Mann ihm nicht glaubte. Bestimmt hätte er sich den Jungen vorgenommen, wenn Daisy nicht dabei gewesen wäre. Sie tat ihr Bestes, um durch und durch seriös zu wirken, und sie erreichten das Erdgeschoss ohne weiteren Wortwechsel. Der Mann stiefelte ohne einen Blick zurück davon.

Daisy trat aus dem Lift und ging, vorbei an dem unbesetzten Empfangspult, in die Lobby. Der Boden war mit einem Muster aus weißen, grauen, schwarzen und dunkelroten Marmorfliesen ausgelegt, die Wände rundum hüfthoch grau verkleidet. In jeder Ecke standen armselige Palmen in Töpfen, was wohl hier genauso dazugehörte wie in London. In dieser ungemütlichen Oase flackerte unter einem dunklen Kaminsims mit aufwendigem Schnitzwerk ein Feuer. Zu beiden Seiten davon standen steife, nicht sehr einladende Bänke aus dem gleichen geschnitzten Holz mit rot-beige gestreiften Polstern.

Zwei Sessel und ein kleines Sofa, ebenso gestreift, standen vor dem Kamin um einen niedrigen Glastisch. Drum herum gruppierten sich mehrere wackelig wirkende Tische mit ebenso wackeligen Stühlen. Um zwei dieser Tische, die zusammengeschoben waren, saß eine Gruppe ernst dreinblickender Frauen und Männer mit ziemlich langen Haaren in eher ungewöhnlicher Garderobe: Die Männer hatten statt der üblichen Krawatten weiche, knallbunte Halstücher umgebunden, und einige der Frauen trugen Cordsamthosen. In ihrem taubenblauen Kostüm kam sich Daisy eindeutig bieder vor.

Ähnlich aussehenden Menschen war Daisy schon in Chelsea begegnet – in dem Londoner Stadtteil, nicht dem Hotel –, wo sie vor ihrer Hochzeit gelebt hatte. Entweder diskutierten sie über die Zukunft großer Literatur oder über die Niedertracht von Verlegern.

In Chelsea hätte so eine Gruppe den Nachmittagstee als absolut bourgeois abgelehnt (sie zogen Getränke wie Bier oder billigen Sherry vor, je nachdem, wer zu sein sie vorgaben), hier jedoch hielten sich alle an Teetassen fest. Tatsächlich entdeckte Daisy überall in der Lobby Teekannen auf den Tischen, die alle besetzt waren.

Ein junger Mann saß allein an einem Tisch auf einer der steifen Bänke an den Wänden. Seine Teekanne stand auf einem Beistelltisch, etwas zu hoch und nicht in greifbarer Nähe. Tasse und Untertasse balancierte er ungeschickt in einer Hand, als sei er sich nicht ganz sicher, was er damit sollte. Er war unauffällig gekleidet und trug einen dunklen geschäftsmäßig wirkenden Anzug. Sein Haar über der intellektuell wirkenden Hornbrille war kurz geschnitten. Er mochte so etwa drei oder vier Jahre jünger sein als Daisy mit ihren sechsundzwanzig Jahren und vermied es offensichtlich, sie anzusehen.

Natürlich hätte sie sich nicht zu ihm gesetzt, selbst wenn er sie dazu aufgefordert hätte, obwohl sie sich zu gerne irgendwo niedergelassen hätte.

Sie war doch eine moderne, unabhängige junge Frau, sagte sie sich. Schon seit Jahren war sie auf sich selbst gestellt, nachdem sie beschlossen hatte, dass alles besser wäre, als bei ihrer Mutter im Dower House zu leben, nachdem ihr Vater an der Grippeepidemie Anfang 1900 gestorben war. Nur weil sie inzwischen im Stand der Ehe war, schon vor einem ganzen Monat geheiratet hatte und ihr geliebter Alec Hunderte Kilometer entfernt war, bedeutete das noch lange nicht, dass sie nicht mehr auf sich selbst aufpassen konnte.

Der einzige freie Platz war auf der anderen Bank, doch gerade als sie sich dazu entschloss, sich dorthin zu setzen, erhob sich ein Paar und verließ einen Tisch auf der gegenüberliegenden Seite der Lobby, neben der Tür zu dem wenig benutzten Salon für Damen. Daisy steuerte darauf zu, als eine kleine gedrungene Frau mit unordentlichen grauen Haaren auf sie zugeeilt kam.

»Ach herrje«, sagte sie, »ich hoffe, es stört Sie nicht?« Sie sah Daisy flehentlich über die Gläser ihrer Halbbrille an.

»Was soll mich stören?«, fragte Daisy verblüfft.

Die kleine Dame wedelte mit dem Strickzeug, das sie bei sich hatte, einem Babyjäckchen mit entzückendem Muster aus hellgelber und weißer Wolle, die sich hinter ihr, wie Daisy jetzt bemerkte, bis zu dem niedrigen Tisch am Kamin verfolgen ließ, wo die kleine Dame ihren Strickbeutel deponiert hatte.

»Es geht um meine Schwester«, vertraute sie Daisy an. »Ach herrje, wie unangenehm, aber sie möchte es so gerne wissen.«

»Was möchte sie wissen?«, fragte Daisy zurückhaltend.

»Ach herrje, wie immer vermassle ich alles. Meine Schwester, Genevieve, besteht darauf, jeden kennenzulernen, der im Hotel wohnt. Wären Sie so freundlich?«

Sie wirkte etwas konsterniert, als Daisy lachte, wurde jedoch zuversichtlicher, als diese sagte: »Ich würde mich freuen. Darf ich Ihren Namen wissen?«

»Ach herrje, ich dachte, ich hätte mich gleich vorgestellt! Ich bin Miss Cabot, Ernestine Cabot – aus Boston, Sie wissen schon – allerdings eine ganz unbedeutende Linie.«

Miss Cabot drehte sich um und verhedderte sich mit den Füßen in ihrem eigenen Wollgarn. Sie wäre womöglich gestürzt, wenn nicht Kevin, der sich von seinem Posten am Lift entfernt hatte, herbeigestürzt wäre, um sie zu stützen.

»Passiert immer wieder, einmal pro Woche, immer wie am Schnürchen«, murmelte er Daisy zu.

Kaum einer schien auf das unbedeutende Missgeschick zu achten, mit Ausnahme des jungen Mannes, der ebenfalls zu Hilfe eilte. Er bückte sich, um die Wolle zu entwirren, doch Miss Cabot drehte sich pikiert um.

»Ach herrje ... sehr zuvorkommend, Mr. ... äh ...«

»Lambert.«

»Mr. ... Oje ... ziemlich peinlich ...«

Daisy vermutete, dass ihr weibliche Hilfe lieber wäre. Sie befreite die von schwarzen Baumwollstrümpfen umhüllten Fesseln der kleinen Dame, während Miss Cabot ein ums andere Mal »Ach herrje!» ausstieß.

(Continues…)


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