Töchter der Lüfte: Roman

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eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

Als wir fliegen lernten.

Die junge Holländerin Isa hat alles verloren – ihre Familie, ihr Zuhause, ihr Kind. Dann sieht sie die Möglichkeit, ein anderes Baby vor dem sicheren Tod zu retten, und sucht Zuflucht bei einem Zirkus. Doch um unerkannt zu bleiben, muss sie mit der Artistin Astrid zusammenarbeiten – am Trapez. Diese hat selbst ein Geheimnis, das sie um jeden Preis wahren will. Widerwillig nähern sich die beiden Frauen bei dem gefährlichen Training an. Bis Isa sich in einen den Franzosen Luc verliebt und damit alles aufs Spiel setzt ...

„Ein Buch, das ich in einem Zug durchlesen musste – die Freundschaft dieser beiden so grundverschiedenen Frauen während des Zweiten Weltkriegs hat mich nicht mehr losgelassen.“ Kristina Baker Kline, Autorin von “Der Zug der Waisen”.


Product Details

ISBN-13: 9783841215161
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 02/16/2018
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 400
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

About The Author

Pam Jenoff hat jahrelang in Krakau als Vizekonsul der amerikanischen Botschaft gelebt. Als Expertin für den Holocaust in Polen war sie im Pentagon tätig und wurde für ihre Arbeit von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ausgezeichnet. Ihre Romane sind internationale Bestseller. Heute arbeitet sie als Anwältin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Philadelphia.
Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Romane "Töchter der Lüfte" und "Die Frauen von Paris" vor.


Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah, Imogen Kealey und Allison Pataki ins Deutsche.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Isa

Ich höre ein Geräusch. Es klingt wie das Summen des Bienenschwarms, der meinen Vater einmal über den ganzen Bauernhof getrieben hat. Hinterher lief er eine Woche lang mit rot geschwollenen Händen herum.

Ich lege die Bürste nieder. Der Fußboden, den ich schrubben muss, war einst eine schöne glatte Marmorfläche, doch unter den harten Stiefelschritten ist sie gesprungen. Die Ritzen haben sich mit Schmutz und Asche gefüllt, die sich nicht mehr entfernen lassen. Ich lausche in die Richtung, aus der das Geräusch kommt, und stehe auf. Über mir verkündet ein Schild in fetten schwarzen Lettern Bahnhof Bensheim. Für einen Warteraum mit zwei Toiletten, einem Fahrkartenschalter und einer Wurstbude, die nur öffnet, wenn es Fleisch gibt, ist Bahnhof eine ziemlich hochtrabende Bezeichnung. Ich nehme eine Münze auf, die unter einer Wartebank liegt, und stecke sie in meine Schürzentasche. Ich kann nicht fassen, was die Leute alles vergessen oder fallen lassen.

Ich gehe hinaus und versuche, das Geräusch zu orten. In der kalten Luft des frühen Februarabends steigen aus meinem Mund kleine Atemwolken auf. Der Himmel ist eineFarbcollage aus Elfenbein und Grau, die noch mehr Schnee verheißt. Der Bahnhof liegt in einem Tal, auf drei Seiten umgeben von Hügeln mit dichtem Nadelwald. Von den schneebedeckten Bäumen stechen nur noch die Wipfel grün hervor. In der Luft hängt leichter Brandgeruch. Vor dem Krieg war Bensheim eine kleine unbedeutende Haltestation, die meisten Reisenden fuhren durch, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Doch wie es aussieht, können die Deutschen aus allem etwas machen. Die Abgeschiedenheit des Ortes eignet sich, um Güterzüge unauffällig abzustellen und nachts ohne großes Aufsehen Lokomotiven zu rangieren.

Ich bin seit fast vier Monaten hier. Im Herbst war es noch wärmer und nicht so schlimm wie jetzt. Seit der Zeit, als man mich hinausgeworfen und mir nur für zwei Tage etwas zu essen mit auf den Weg gegeben hat – für drei, wenn man haushalten konnte –, bin ich immer froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Ein Jahr zuvor, als mein Vater erfuhr, dass ich schwanger war, war er es, der mich davonjagte. Einige Tage später landete ich in Deutschland, in einem Heim für ledige Mütter. Aus Gründen der Diskretion war es weit abgelegen. Ich war der Ansicht, nach der Geburt meines Kindes hätte man mich wenigstens bis zur nächsten Stadt fahren können, aber auch da schickte man mich einfach fort. Ich machte mich auf den Weg zum Bahnhof, bis mir einfiel, dass ich nicht wusste, wohin ich fahren sollte. Mein Geld reichte genau für eine Fahrkarte nach Bensheim, nicht weiter. In den Monaten, die seitdem verstrichen sind, habe ich mehr als einmal daran gedacht, zu meinen Eltern zurückzukehren und sie um Verzeihung zu bitten. Dazu wäre ich nicht zu stolz. Ich würde auf die Knie sinken, wenn ich dächte, dass es etwas nützen würde. Doch an dem Tag, als ich gehen musste, sah ich die Verachtung im Blick meines Vaters und wusste, dass sein Herz sich verhärtet hatte. Und ich würde es nicht ertragen, erneut verstoßen zu werden.

Es war mein Glück, dass man im Bahnhof von Bensheim eine Putzfrau suchte. Ich werfe einen Blick in den Schalterraum. In einer Abstellkammer am hinteren Ende des Raums schlafe ich nachts auf einer dünnen Matratze. Ich trage noch immer das Umstandskleid, das ich an dem Tag anhatte, als ich das Heim für ledige Mütter verließ. Mittlerweile hängt es lose hinab. Aber so wie jetzt wird mein Leben nicht bleiben. Eines Tages werde ich ein richtiges Zuhause haben und eine bessere Anstellung finden – eine, bei der man mir mehr zahlt als ein angeschimmeltes Brot.

Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster des Bahnhofs. Ich falle nicht auf – blondes Haar, das in der Sommersonne ausbleicht, und hellblaue Augen. Es gab Zeiten, da hat es mich deprimiert, unscheinbar zu sein, doch jetzt betrachte ich es als Vorteil. Die beiden anderen Bahnangestellten, die Fahrkartenverkäuferin und der Wurstverkäufer, kommen und gehen. Mit mir wechseln sie kaum ein Wort. Die Fahrgäste durchqueren den Bahnhof mit dem Völkischen Beobachter unterm Arm, treten ihre Zigaretten auf dem Fußboden aus und wollen weder wissen, wer ich bin, noch woher ich komme. Das ist mir recht, auch wenn ich einsam bin. Aber ich mag keine Fragen über meine Vergangenheit beantworten.

Nein, die Leute bemerken mich nicht. Nur ich sehe sie: die Soldaten im Urlaub, die Mütter und Ehefrauen, die jeden Tag erscheinen und auf dem Bahnsteig auf einen Sohn oder einen Ehemann von der Front warten, bevor sie wieder allein nach Hause gehen. Diejenigen, die fliehen wollen, erkennt man auch immer. Sie versuchen, normal auszusehen, als führen sie in die Ferien. Doch ihre Kleidung sitzt zu eng über den vielen Schichten, die sie tragen, und ihre Reisetaschen sind so vollgestopft, dass sie jeden Augenblick aufplatzen können. Sie nehmen zu niemandem Blickkontakt auf, scheuchen nur ihre Kinder weiter, die Gesichter blass und angespannt.

Das Surren wird lauter, die Töne steigen in die Höhe, werden schrill. Das Geräusch kommt von dem Zug, der hier vor einer Weile mit kreischenden Bremsen gehalten hat und jetzt auf dem Abstellgleis steht. Ich gehe darauf zu, vorbei an den nahezu leeren Kohlekippen. Die Vorräte sind längst zur Versorgung der Truppen an die Ostfront geschafft worden. Vielleicht rührt es daher, weil jemand vergessen hat, eine Maschine im Zug auszuschalten. Ich möchte nicht, dass man mir später vorwirft, ich hätte mich nicht darum gekümmert, und ich Gefahr laufe, meine Stelle zu verlieren. Mein Leben ist hart, könnte aber schlimmer sein.

Von meinem Glück hat auch eine ältere Deutsche gesprochen. Das war nach meinem Rauswurf von zu Hause auf der Strecke nach Den Haag, auf einem der vielen Umwege, die der Bus über Straßen voller Bombenkrater fuhr. Sie gab mir ein Stück von ihrem Hering ab. »Du hast Glück«, sagte sie schmatzend, »du entsprichst dem arischen Ideal.«

Ich dachte, sie hätte einen Witz gemacht. Mein Haar war einfach nur blond, meine Nase ein Stummel. Ich war von kräftiger Statur und athletisch, bevor ich zunahm und üppig wurde. Bevor der Deutsche kam und mir verführerische Worte ins Ohr flüsterte, hatte ich mich für nichts Besonderes gehalten. Nun erfuhr ich, dass ich genau richtig war. Ehe ich mich versah, erzählte ich der Frau von meiner Schwangerschaft und dass man mir zu Hause die Tür gewiesen hatte. Sie riet mir, nach Wiesbaden zu fahren, schrieb eine Adresse auf und erklärte, dass ich dort dem Deutschen Reich ein Kind gebären konnte. Ich nahm den Zettel und fuhr nach Wiesbaden. Der Gedanke, mich zu weigern oder dass es gefährlich sein könnte, nach Deutschland zu reisen, kam mir nicht. Dort wünschte man sich offenbar Kinder wie meines, nur das zählte. Zwar wären meine Eltern lieber gestorben, als von Deutschen Hilfe anzunehmen, doch die Frau im Bus hatte gesagt, die Deutschen würden mir Schutz gewähren. So schlecht konnten sie also nicht sein. Und wohin hätte ich sonst auch gehen sollen?

Als ich an dem Heim für ledige Mütter ankam, hieß es wieder, dass ich Glück gehabt hätte. Zwar war ich Holländerin, galt jedoch als Mitglied der arischen Rasse. Mein Kind, das normalerweise als uneheliches Kind gebrandmarkt worden wäre, würde in einem Heim des Lebensborn zur Welt kommen und anschließend von guten deutschen Eltern großgezogen werden. In dem Heim verbrachte ich fast ein halbes Jahr. Ich las und half bei der Hausarbeit, bis mein Körper zu schwerfällig wurde. Das Haus des Lebensborn war nichts Besonderes, aber modern und sauber. Man sorgte dafür, dass dem Reich reinrassige Kinder geschenkt wurden, weiter nichts. Ich lernte eine junge Frau kennen, die einige Monate weiter war als ich. Eines Nachts wurde sie wach und war voller Blut. Sie wurde zur Krankenstation gebracht. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen, ich blieb für mich. Die meisten Frauen verließen das Heim bald nach der Niederkunft.

An einem kalten Oktobermorgen war es so weit. Ich stand vom Frühstückstisch auf, und meine Fruchtblase platzte. Die nächsten achtzehn Stunden nahm ich nur verschwommen wahr. Ich hatte wahnsinnige Schmerzen, aber nie berührte mich eine tröstende Hand. Dann und wann hörte ich einen Befehl, nie eine Ermutigung. Das Kind kam mit einem Klagelaut zur Welt und ließ mich mit einem hohlen Gefühl zurück. Ich sackte in mich zusammen, als hätte man eine Pumpe abgestellt. Ein seltsamer Ausdruck huschte über das Gesicht der Krankenschwester.

»Was ist?«, fragte ich. Die Vorschrift verbot mir, das Kind zu sehen. Mühsam richtete ich mich auf. »Stimmt etwas nicht?«

»Alles in Ordnung«, versicherte mir der Arzt. »Es ist ein gesundes Kind.« Er klang jedoch beunruhigt und schaute verstört auf den in weiße Tücher gehüllten Säugling. Ich beugte mich zu dem Kind vor. Zwei große dunkle Augen sahen mich an.

Das waren keine arischen Augen.

Deshalb war auch der Arzt so bestürzt. Das Kind entsprach nicht dem Bild der Herrenrasse. Irgendein verstecktes Gen in meiner Familie oder der des deutschen Soldaten hatte für dunkle Augen und einen bräunlichen Teint gesorgt. Das war kein Kind für den Lebensborn.

Das Baby begann zu schreien, hoch und schrill, als hätte es sein Schicksal erfasst und wollte aufbegehren. Trotz meiner Schmerzen streckte ich die Arme nach ihm aus. »Ich möchte ihn halten.«

Die Krankenschwester war dabei, ein Formular auszufüllen. Sie und der Arzt tauschten einen Blick. »Das geht nicht. Das gestattet der Lebensborn nicht.«

Es kostete mich große Kraft, aufrecht zu sitzen. »Ich nehme ihn und verschwinde.« Das sagte ich nur so dahin, ich wusste ja nicht, wohin ich hätte verschwinden sollen. Um im Heim aufgenommen zu werden, hatte ich bei meiner Ankunft zudem Formulare unterschrieben und offiziell auf mein Kind verzichtet. Im Krankenhaus gab es Wachen, und ich war noch zu geschwächt, um es ohne Hilfe verlassen zu können. »Bitte geben Sie ihn mir bloß eine Sekunde lang.«

»Nein.« Die Antwort klang fest und entschieden. Ich bettelte und flehte. Die Krankenschwester ging aus dem Zimmer.

Ich versuchte es noch einmal. Irgendetwas in meiner Stimme brachte den Arzt dazu nachzugeben. »Aber nur für einen Moment.« Widerstrebend überreichte er mir den Säugling. Ich betrachtete das gerötete Gesichtchen und atmete den köstlichen Duft seines Köpfchens ein, das nach den vielen Stunden, in denen das Kind um seine Geburt gerungen hatte, spitz zulief. Ich studierte die Augen. Sie waren wunderschön. Wie konnte etwas derart Perfektes gegen ein Ideal verstoßen?

Mein Kind! Eine Woge der Liebe stieg in mir auf. Ich hatte das Kind nicht gewollt, doch in diesem Augenblick bereute ich nichts mehr und wollte es nur noch behalten. Doch dann machte der Gedanke mir Angst – und gleich darauf durchströmte mich wieder ein tiefes Glücksgefühl. Die Deutschen würden das Kind nicht wollen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als es mitzunehmen. Dann wäre es mein, und ich würde einen Weg finden ...

Die Krankenschwester kehrte zurück und riss mir das Baby aus den Armen.

»Nein, warten Sie.« Ich griff nach dem Kind, sah den Arzt an meiner Seite und spürte einen Stich im Arm. Gleich darauf wurde mir schwindlig. Jemand drückte mich in die Kissen zurück. Meine Umgebung verblasste, nur das Bild der dunklen Augen blieb.

Als ich in dem kalten sterilen Kreißsaal wieder zu mir kam, war ich allein, ohne Krankenschwester, ohne Arzt, ohne Kind. An meinem Bett saß weder ein Ehemann noch eine Mutter. Ich war ein leeres Gefäß, das von niemandem mehr gebraucht wurde. Später am Tag erzählte man mir, das Kind habe ein gutes Zuhause gefunden, aber woher sollte ich wissen, ob es die Wahrheit war.

Ich verjage die Erinnerung, doch meine Kehle ist so eng geworden, dass ich schlucken muss. Ich gehe weiter. Gott sei Dank ist die Schutzpolizei nirgends zu sehen, die sonst mit durchdringenden Blicken den Bahnhof kontrolliert. Wahrscheinlich sitzen sie in ihrem Kleinbus und trinken Schnaps, um sich aufzuwärmen. Ich habe das Abstellgleis erreicht, schaue an den Waggons entlang und spitze die Ohren. Das Geräusch kommt nicht von der Lokomotive, sondern aus dem Güterwaggon hinter der Lok. Es stammt auch nicht von einem Motor, wie ich jetzt verstehe, sondern hat etwas Menschliches.

Ich verharre. Normalerweise nähere ich mich den Zügen nicht und schaue fort, wenn sie durch den Bahnhof fahren, denn sie transportieren Juden.

Es war noch in Scheveningen, meinem Heimatort, als ich zum ersten Mal miterlebte, wie jüdische Männer, Frauen und Kinder auf dem Marktplatz zusammengetrieben wurden. Weinend lief ich zu meinem Vater. Mein Vater war ein Patriot, der sich für alles Mögliche einsetzte, warum also nicht für diese Menschen? »Es ist schrecklich«, murmelte er. Ich sah zu ihm hoch, auf den grauen Bart, der vom vielen Pfeiferauchen zu vergilben begonnen hatte. Mein Vater wischte meine Tränen ab und erklärte mir mit vagen Worten, es gebe Wege, Dinge zu regeln. Keiner dieser Wege konnte jedoch verhindern, dass meine Klassenkameradin Steffi Klein mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder zum Bahnhof marschieren musste – Steffi in dem schönen Kleid, das sie auf meinem Geburtstag getragen hatte.

Das Geräusch wird lauter, klagend wie ein verwundetes Tier. Ich werfe einen Blick über den leeren Bahnsteig und auf das Bahnhofsgebäude. Können die Schutzpolizisten das Geräusch hören? Unsicher betrachte ich den Waggon. Ich sollte kehrtmachen und weiterarbeiten. Nichts sehen und nichts hören, diese Devise haben wir uns in den Kriegsjahren zu eigen gemacht. Man steckt seine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Wenn jemand entdeckt, dass ich hier herumschnüffele, verliere ich meine Stelle, habe keinen Platz mehr zum Wohnen – womöglich nimmt man mich sogar fest. Allerdings konnte ich noch nie gut wegschauen. Ich bin zu neugierig, das sagte meine Mutter schon, als ich noch ein Kind war. Immer musste ich alles wissen. Ich trete an den Waggon. Es klingt, als würden Kinder weinen. Wie soll ich da weghören?

Wie soll ich den winzigen Fuß ignorieren, der nun aus dem offenen Spalt der Waggontür ragt?

Ich ziehe die Tür auf – und stoße einen Schrei aus. Meine Stimme hallt gefährlich durch die Dunkelheit, hoffentlich hat mich niemand gehört. Vor mir liegen Kinder, Babys, unter ihnen nur eine dünne Schicht Stroh, winzige Körper, so viele, dass man sie nicht zählen kann. Dicht an dicht und übereinander liegen sie. Die meisten von ihnen regen sich nicht. Vielleicht schlafen sie, vielleicht sind sie tot. Einige jammern leise, andere blöken wie kleine Lämmer.

Der Gestank von Urin, Kot und Erbrochenem steigt mir in die Nase. Ich halte mich an der Waggontür fest und ringe nach Luft. Seitdem ich in Bensheim bin, habe ich versucht, das, was hier abläuft, nicht an mich heranzulassen. Ich tue, als wäre das alles ein schlechter Traum oder ein Film, etwas, das nicht real ist. Doch bei diesem Anblick kann ich das nicht mehr. So viele kleine Kinder, die man offenbar ihren Müttern entrissen hat! Mein Bauch, in dem einmal mein Kind war, beginnt zu schmerzen.

Schockstarr stehe ich da. Woher sind diese Babys gekommen? Lange können sie nicht unterwegs gewesen sein, sonst wären sie in der eisigen Kälte erfroren.

Seit Monaten sehe ich die Güterzüge, die nach Osten fahren, und weiß, sie transportieren weder Vieh noch Getreide, sondern Menschen. Trotz der merkwürdigen Art, in der diese Menschen reisen, habe ich mir eingeredet, dass sie in ein Lager oder ein Dorf gebracht werden, um sie an einem einzigen Ort zusammenzufassen. Wie das konkret aussehen sollte, war mir nicht klar. Ich stellte mir eine Wiese mit Blockhütten oder Zelten vor, dachte an den Zeltplatz südlich unserer kleinen Stadt in Holland, wo diejenigen Ferien machten, die sich nichts Besseres leisten konnten oder es gern urtümlich hatten. Ich sagte mir, dass die Menschen in den Zügen »umgesiedelt« würden, wie es immer hieß. Doch angesichts dieser toten oder sterbenden Säuglinge begriff ich das ganze Ausmaß dieser Lüge.

Ich schaue über meine Schulter nach hinten. Die Menschentransporte werden stets bewacht. Es ist aber niemand zu sehen. Warum auch, die Säuglinge können nicht aus eigener Kraft verschwinden.

Direkt vor mir liegt ein Kind mit grauer Haut und blauen Lippen. Ich wische den Raureif von seinen Augenlidern, vergebens, das Kind ist tot. Ich lasse meinen Blick über die anderen Säuglinge wandern. Die meisten sind nackt, andere bekleidet oder in eine kleine Decke eingeschlagen. Keines hat etwas Warmes an. In der Mitte ragen zwei Beinchen mit hellrosa Strickstiefelchen in die Luft, die einzigen Kleidungsstücke, die dieses Kind besitzt. Demnach gibt es irgendwo eine Frau, die sich so sehr auf seine Geburt gefreut hat, dass sie die kleinen Stiefel Masche für Masche gestrickt hat. Ein Schluchzer entringt sich meiner Brust.

(Continues…)


Excerpted from "Töchter der Lüfte"
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