Untiefen: Die Heldin: tough, genial und immer am Rande der Selbstzerstörung

Untiefen: Die Heldin: tough, genial und immer am Rande der Selbstzerstörung

Untiefen: Die Heldin: tough, genial und immer am Rande der Selbstzerstörung

Untiefen: Die Heldin: tough, genial und immer am Rande der Selbstzerstörung

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Overview

»Eine mutige, unbeirrbare Heldin und eine mutige, unbeirrbare Schreibweise ergänzen sich zu einem außergewöhnlichen Debüt – höchst empfehlenswert.« Lee Child

Nora Watts ist die perfekte Jägerin - als ehemaliges Mitglied der Canadian Forces hat sie ein untrügliches Gespür für Lügen. Sie ist die beste Privatdetektivin Kanadas. Doch ihr Leben ist hart, immer wieder verfällt sie dem Alkohol. Sie vertraut niemandem, lebt heimlich in einer Abstellkammer unter dem Detektivbüro in Vancouver und spricht nur mit ihrer Hündin Whisper. Bis ein Paar sie um ihre Hilfe bittet. Ihre Tochter Bonnie ist verschwunden. Nora stellt entsetzt fest, dass es sich um ihre eigene, vor fünfzehn Jahren zur Adoption freigegebene Tochter handelt. Nur wenn sie sich jetzt zum ersten Mal wieder den Menschen öffnet, kann sie sie retten. Aber Bonnies Entführer sind auch hinter ihr her, und bald wird die Jägerin zur Gejagten ...

»Extrem spannend, mit ganz eigener Stimme, psychologischer Tiefe und herzzerreißend lebensnahen Figuren. Untiefen bleibt im Gedächtnis, noch lange nachdem man die letzte Seite gelesen hat. Vielleicht für immer.« Jeffery Deaver

»Kamals Debüt ist anders als die üblichen Vermissten-Thriller – rau, brutal und provozierend. Eine Autorin, die man im Blick behalten sollte!« Library Journal 


Product Details

ISBN-13: 9783843716550
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 11/17/2017
Series: Ein Nora-Watts-Thriller , #1
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 400
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Die Kanadierin Sheena Kamal studierte Politikwissenschaften an der University of Toronto. Sie ist in der Film- und Fernsehbranche tätig, zuletzt war sie bei der Entwicklung einer Crime-Drama-Serie für Recherchen zuständig. Ihre Erfahrungen inspirierten sie dazu, ihr Debüt "Untiefen" zu schreiben.

Sheena Kamal wurde in der Karibik geboren, wanderte als Kind jedoch nach Kanada aus. Sie hat Politikwissenschaften an der University of Toronto studiert und als Journalismusforscherin in der Film- und Fernsehbranche gearbeitet. Die Einblicke, die Kamal bei der Entwicklung einer Crime-Drama-Serie gewonnen hat, inspirierten sie dazu, Thriller zu schreiben. Für ihr Debüt »Untiefen« gewann sie verschiedene Preise. Kamal lebt in Vancouver, Kanada.


Sybille Uplegger studierte englische und amerikanische Literaturwissenschaft und Philosophie in Bamberg und Seattle, ehe sie nach Berlin zog, um dort als freie Übersetzerin zu arbeiten. In ihrer Freizeit erkundet die sportbegeisterte Mutter eines Sohnes verschiedene Laufstrecken rund um die Hauptstadt oder ist mit ihrem Bogen auf dem Schießplatz anzutreffen.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Der Anruf kommt um kurz nach fünf Uhr morgens.

Ich bin sofort in Alarmbereitschaft, denn zu so früher Stunde bedeutet ein klingelndes Telefon nichts Gutes. Vor neun Uhr erhält man garantiert nicht die Nachricht vom Ableben eines wohlhabenden Verwandten, der einem sein gesamtes Hab und Gut vermacht hat. Ein Glück also, dass ich bereits wach bin und gerade meine zweite Tasse Kaffee trinke; so bin ich wenigstens halbwegs gerüstet.

Davor war ich spazieren. Ich habe mich über das Geländer der Ufermauer gelehnt und ins Wasser geschaut, das genauso ruhig und grau war wie die Stadt um diese Jahreszeit. Wie üblich habe ich versucht, in der Tiefe die warme Schwarze Strömung auszumachen, die, von Japan kommend, in den Nordpazifik fließt, wo sie ihre lauen Finger bis zur Küste hin ausstreckt. Und wie üblich war sie nirgends zu entdecken.

Vancouver. Manche Menschen behaupten, es sei wunderschön hier, aber diese Menschen waren noch nie in den Gegenden der Stadt, die ich mein Zuhause nenne. Sie waren noch nie unten in der Hastings Street mit ihren Spritzen und Junkies. Sie haben nie monatelang auf grauen Himmel und graues Wasser gestarrt, während der Regen, wie in einem vergeblichen Versuch, die Stadt reinzuwaschen, ohne Pause vom Himmel rauscht. Und wenn dann der Sommer kommt, wird es so heiß, dass man in den Feuern, die in den Wäldern der Provinz wüten, Marshmallows rösten kann. An der Küste ist der Sommer ganz erträglich, allerdings lässt er zum jetzigen Zeitpunkt noch mehrere Monate auf sich warten.

Ich betrachte die unbekannte Nummer auf dem Display meines Handys und drücke sie nach kurzem Zögern weg. Bereits wenige Sekunden später klingelt es erneut. Neugierig geworden, nehme ich nun doch ab. Beharrlichkeit ist eine Eigenschaft, die ich bei Anrufern seit jeher bewundere.

»Hallo?«

Nachdem der Mann am anderen Ende mir mit heiserer Stimme den Grund seines Anrufs geschildert hat, tritt erst einmal eine lange Pause ein. Mit der Zeit wird diese Pause beklemmend. Ich spüre, wie der Anrufer mit sich ringt; er möchte noch mehr sagen, weiß aber, dass das nicht klug wäre. Niemand will einen Schwafler in der Leitung haben. Schon gar nicht, wenn es sich um einen Unbekannten handelt. Ich stelle mir vor, wie er schwitzt. Vielleicht sind seine Hände feucht geworden, denn plötzlich fällt ihm das Telefon herunter. Ich höre das Poltern, als es auf dem Boden aufschlägt. Er flucht geschlagene dreißig Sekunden lang, während er es aufhebt und um Fassung ringt.

»Sind Sie noch da? Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, fragt er.

»Ja, ich hab's gehört«, antworte ich, als die Stille zur Qual wird. »Ich komme.« Dann lege ich auf.

Ich habe den Namen Everett Walsh noch nie zuvor gehört. Trotzdem behauptet er, ich könnte möglicherweise etwas über ein verschwundenes Mädchen wissen. Allerdings hat er mir nicht verraten, was. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, das Treffen abzulehnen, aber er klang so verzweifelt, und wenn es etwas gibt, womit man mich noch leichter herumkriegt als mit Hartnäckigkeit, dann ist es Verzweiflung.

Zugegeben, es ist gewissermaßen mein Beruf, Menschen aufzuspüren – aber was um alles in der Welt kann ich über ein vermisstes Mädchen wissen, das einen Anruf um diese Uhrzeit rechtfertigen würde?

Seine Verzweiflung ist so frisch und nackt, dass ich sie beinahe schmecken kann.

CHAPTER 2

Es ist kühl an diesem Wintermorgen in Vancouver. Ich hätte auch »nass« sagen können, aber das ist an der Westküste zu dieser Jahreszeit gewissermaßen mitgedacht. Hier muss man immer mit Niederschlag rechnen. Es dauert noch eine Stunde bis zur vereinbarten Zeit. Ich sitze auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Wartehäuschen einer Bushaltestelle – ungeachtet dessen, dass mein uralter, verbeulter Corolla auf dem Parkplatz steht. Menschen, die an Bushaltestellen warten, werden von Autofahrern für gewöhnlich nicht wahrgenommen, es sei denn, die Ampel ist gerade rot und sie wissen vor lauter Langeweile nicht, wo sie hinschauen sollen. Da es hier keine Ampel gibt, fühle ich mich sicher. Von meinem Platz aus habe ich sowohl das Café als auch den dazugehörigen Parkplatz gut im Blick. Der Tresen ist hell erleuchtet, der Rest des Cafés jedoch liegt im Halbdunkel. Es soll also ein geheimes Treffen werden. Kein Problem. Ich bin Expertin für Heimlichtuerei. Kann dieser Everett Walsh dasselbe von sich sagen?

Ein Bus hält vor mir. Ich gebe dem Fahrer ein Handzeichen, dass er weiterfahren soll. Mit einem missmutigen Brummen gibt er Gas, und der Bus bläst mir beim Losfahren eine Abgaswolke ins Gesicht.

Das Café liegt, umgeben von Autowerkstätten und Fast-Food-Läden, an der Grenze zum belebten Bezirk Kingsway. Es ist ein Zwischending aus Coffeeshop und Diner. Innerhalb des breiten Spektrums von Lokalen, die es zwischen Everett Walshs Haus in Kerrisdale und meinem eigenen, ungleich schäbigeren Wohnviertel gibt, hat er sich eins mit hübscher roter Markise und verblichenem gelbem Anstrich ausgesucht. Etwas, das genau in der Mitte liegt. Wahrscheinlich hofft er, dass wir beide uns hier einigermaßen wohl fühlen können.

Selbst aus der Entfernung erkenne ich recht schnell, dass der Kaffee in dem Laden scheußlich schmeckt. Die Muffins allerdings scheinen nicht übel zu sein. Die Leute, die mit einem Pappbecher in der Hand aus der Tür kommen, fummeln draußen den Deckel ab, trinken einen Schluck und verziehen das Gesicht, wohingegen diejenigen, die von ihrem Muffin abbeißen, einfach achselzuckend weitergehen. Sie haben an ihrem Kauf nichts zu beanstanden.

Zwanzig Minuten vor der Zeit biegt ein sportlicher dunkler Audi auf den Parkplatz ein. Darin sitzt ein gepflegtes Paar, beide mit Sonnenbrille. Im Vorbeifahren werfen sie aus dem Auto einen Blick ins Café. Als sie denjenigen, nach dem sie Ausschau halten, nicht sehen, beginnen sie zu streiten. Der Audi fährt davon, kommt aber bereits fünf Minuten später wieder zurück.

Sie parken unweit des Eingangs. Der Mann, der inzwischen die Sonnenbrille abgenommen hat, steigt aus und nimmt Kurs auf das Café. Er ist klein und untersetzt mit dickem Hals. Eine Baseballkappe bedeckt sein schütteres braunes Haar, und selbst unter der dunklen Jacke erkennt man gebeugte Schultern. Er wirkt niedergeschlagen. Kurze Zeit später taucht dann auch die Frau auf. Sie wirft ihre langen roten Haare nach hinten und folgt dem Mann hinein. Ihr ist egal, ob jemand sie sieht. Sie ist wunderschön und daran gewöhnt, alle Blicke auf sich zu ziehen. Allerdings behält sie ihre Sonnenbrille auf, weil das ihre Aura des Geheimnisvollen und Sinnlichen verstärkt. Es ist ein äußerst wirkungsvolles Mittel. Der Mann mittleren Alters, der hinter dem Tresen des Cafés die Gäste bedient, taxiert sie unauffällig, während er ihr Kaffee einschenkt. Ihrem Ehemann schenkt er keine Beachtung, außer um sein Geld zu nehmen.

Der Mann und die Frau warten. Beide sind etwa Mitte vierzig und gut gekleidet. Sie unterhalten sich nicht, aber ihr Schweigen ist auch nicht freundschaftlich. Falls es zwischen diesen beiden jemals etwas wie Chemie gegeben hat, ist nach vielen Jahren Ehe nichts mehr davon übrig. Der Mann zeigt nach wie vor Interesse, doch die Frau ignoriert all seine Bemühungen um Aufmerksamkeit und starrt aus dem Fenster zur Einfahrt des Parkplatzes. Sie nippen an ihrem Kaffee, lassen dabei aber nicht die kleinste Regung erkennen. Entweder sie achten gar nicht auf das Aroma, oder ihre Geschmacksknospen stehen unter Schock.

Ich studiere sie für die restliche Zeit, die mir noch bleibt. Ganz offensichtlich sind sie kein Paar, das gewohnheitsmäßig zum gemeinsamen Kaffeetrinken ausgeht. Von sich aus wären sie niemals hergekommen, die Lage muss also ernst sein. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, kann aber nicht verhehlen, dass ich zugleich auch neugierig bin. Bei einer Internetrecherche heute Morgen habe ich herausgefunden, dass sie beide als Architekten arbeiten, allerdings für unterschiedliche Firmen. Da sie mir im Großen und Ganzen harmlos erscheinen, stehe ich auf, überquere die Straße und gehe um das Gebäude herum zum Seiteneingang des Cafés. Damit rechnen sie nicht, und dementsprechend überrascht sind sie, als ich plötzlich, einen Muffin in der Hand, an ihrem Tisch auftauche.

Die Frau mustert meine abgetragene Jeans und den ausgeleierten Pullover mit den gezogenen Fäden. Im Gegensatz zu ihr konzentriert sich der Mann allein auf mein Gesicht. Meine Haut, die weder hell noch dunkel ist, sondern irgendwas dazwischen. Die ausgeprägten Wangenknochen. Das trotzige Kinn. Ganz besonders scheinen ihn meine Augen zu faszinieren. Das ist oft so – jedenfalls bei denen, die sich die Mühe machen, genauer hinzusehen. Ohne meine Augen wäre ich vollkommen unscheinbar. Sie sind so dunkel, dass Pupille und Iris kaum voneinander zu unterscheiden sind, und werden von langen Wimpern umrahmt. Man könnte sie beinahe als hübsch bezeichnen – aber nur im ersten Moment, bis man merkt, dass sie das Licht schlucken und undurchdringlich sind wie eine Wand. Wer mir in die Augen schaut, dem fällt plötzlich siedend heiß ein, dass er gerade jetzt einen wichtigen Termin hat oder unbedingt irgendwelche anderen Dinge erledigen muss, die keinen Aufschub dulden.

»Everett Walsh?« Ich hole mir einen Stuhl und setze mich. Ich wende mich ausschließlich an den Mann. Die Frau braucht noch etwas Zeit, um sich von meinem Überraschungsauftritt zu erholen.

»Was? Ach so. Ja. Das wäre ... äh, das bin wohl ich.« Er wischt sich unter dem Schirm seiner Kappe eine Schweißperle von der Stirn, dann nimmt er die Kappe ganz ab. Die Frau wirft ihm einen angeekelten Blick zu. »Und das ist meine Frau Lynn.«

»Ist mir ein Vergnügen«, sagt sie, wobei ihr schneidender, kühler Ton verrät, dass es ihr ganz und gar kein Vergnügen ist. Sie erkennen mich nicht als die Frau von der Bushaltestelle wieder. Wahrscheinlich haben sie gar nicht registriert, dass es überhaupt eine Bushaltestelle gibt. Die beiden gehören nicht zu der Sorte Mensch, die im Alltag auf öffentliche Transportmittel angewiesen ist. Die Glücklichen. Der öffentliche Personennahverkehr in Vancouver lässt sich am treffendsten als totales Desaster beschreiben. Es gilt, ihn unter allen Umständen zu meiden, es sei denn, man ist arm, oder die Luxuskarosse steht gerade in der Werkstatt.

Da Everett erkennt, dass Lynn ihm vorerst keine Hilfe sein wird, übernimmt er die Gesprächsführung. »Danke, dass Sie gekommen sind. Ich weiß, der Anruf kam ziemlich unerwartet, und Sie kennen uns nicht, aber ...«

»Wer hat mich Ihnen empfohlen?« Denn irgendjemand muss mich empfohlen haben. Woher hätten sie sonst meine Nummer?

Everett blinzelt verwirrt. »Was? Niemand. Wir haben jemanden damit beauftragt, Sie zu finden.«

Jetzt ist die Verwirrung auf meiner Seite. Normalerweise bin ich diejenige, die Leute findet. »Wovon reden Sie?«

»Unsere Tochter ist verschwunden«, klinkt Lynn sich ein.

Everett sieht seine Frau an. »Das habe ich ihr schon am Telefon gesagt, Schatz.«

Lynn dreht sich zu ihm um. Sie tauschen einen Blick, in dem ihre ganze gemeinsame Geschichte zu liegen scheint. »Ihre Tochter ist verschwunden. Hast du ihr das gesagt?«

Mit offenem Mund starre ich sie an. Der Satz schlägt bei mir ein wie eine Bombe – und zweifellos hat Lynn genau das beabsichtigt. Einen Moment lang habe ich das Gefühl, als wäre der Sauerstoff aus dem Raum gesaugt worden. Eine seltsame Spannung entsteht. Jetzt endlich widmet Lynn mir ihre volle Aufmerksamkeit, und obwohl sie weder lächelt noch ihre Sonnenbrille abgenommen hat, erkenne ich, dass sie äußerst zufrieden mit sich ist.

Everett räuspert sich. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn dann aber wieder. Wir starren einander an, er und ich, bis er den Mut für einen zweiten Versuch aufbringt. »Sie meint das Baby, das Sie vor fünfzehn Jahren zur Adoption freigegeben haben.« Meine Reaktion beunruhigt ihn. Bislang habe ich alles mit vollkommen ausdrucksloser Miene zur Kenntnis genommen. Jetzt allerdings verspüre ich das Bedürfnis, nachzusehen, ob ich noch festen Boden unter den Füßen habe, statt, wie ich glaube, in einen alptraumhaften Kaninchenbau gestürzt zu sein.

Er zieht ein Foto aus seiner Brieftasche und legt es vor mich hin.

Ein leicht molliges junges Mädchen mit goldenem Teint blickt mir entgegen. Obwohl ihre Augen tiefer liegen und ein wenig schräg stehen, lässt sich nicht leugnen, dass es meine Augen sind. Nahezu schwarz und undurchdringlich. Sie hat dunkle Haare, dunkler als meine, die ihr bis über die Schultern reichen, und ein niedliches Grübchen am Kinn. Doch dann höre ich auf, ihre einzelnen Merkmale zu katalogisieren. Ich will ein Gespür fürs Ganze bekommen. Für das, was sich hinter der äußeren Erscheinung verbirgt. Was dieses Mädchen ausmacht. Nach einer Weile sehe ich, dass ihre Lippen zwar lächeln, ihre Augen jedoch nicht. Sie belügt die Kamera, indem sie vortäuscht, glücklich zu sein.

»Das ist Bonnie. Bronwyn, um genau zu sein, aber wir nennen sie meistens Bonnie.« In Everetts Stimme schwingt Stolz mit. Und Liebe.

Ich werfe einen Blick zu Lynn hinüber. Sie vermeidet es, das Foto anzuschauen. Ich beiße von meinem Muffin ab. Das gibt mir Zeit, meine Gedanken zu sammeln, die durch die Ritzen im Holztisch gerutscht sind und jetzt überall verstreut auf dem Fußboden herumliegen.

Everett weiß meine Miene nicht recht zu deuten, aber er hat angefangen, und jetzt gibt es kein Zurück mehr. »Sie ist vor zwei Wochen verschwunden. Wir dachten, sie wäre mit Freunden zelten gefahren, aber ...«

»... das war gelogen. Sie hat alles an Bargeld mitgenommen, was wir im Haus hatten. Außerdem hat sie noch meine Scheckkarte gestohlen und damit tausend Dollar abgehoben, ehe ich etwas gemerkt habe und die Karte sperren lassen konnte.« Lynn nimmt ihre Sonnenbrille ab, und ich sehe die Schatten unter ihren blutunterlaufenen Augen. Allmählich bekomme ich ein klareres Bild von dem, was hier vor sich geht. Lynn ist mit ihrem Latein am Ende. Das Kind, das sie unbedingt haben wollte und für dessen Adoption sie große Mühen in Kauf genommen hat, ist zu einem pubertierenden Teenager herangewachsen, und jetzt sucht sie den Kassenzettel, weil sie es zurückgeben will. »Das ist früher auch schon vorgekommen, schon zweimal. Aber so lange wie jetzt ist sie noch nie weggeblieben.«

»Die Polizei war kein bisschen hilfsbereit«, wirft Everett ein. »Sie haben zwar eine Vermisstenmeldung rausgegeben, aber weil sie das Geld gestohlen hat, gehen sie davon aus, dass sie aus freien Stücken weggelaufen ist und nicht zurückkommen will. Sie haben aufgehört, nach ihr zu suchen – falls sie überhaupt je wirklich nach ihr gesucht haben. Sie sind zu uns nach Hause gekommen und haben den Vorfall aufgenommen, und ich glaube, einer von ihnen hat auch mit ein paar Lehrern von Bonnies Schule gesprochen, aber mehr ist nicht passiert. Sie ist ein gutes Mädchen ...«

Lynn schnaubt verächtlich. »Die haben sie als ›chronische Ausreißerin‹ bezeichnet, Everett. Sie hat uns beklaut.«

»Sie ist ein gutes Mädchen!«, beharrt Everett. »Aber in letzter Zeit war sie ziemlich schwierig«, räumt er ein. »Neue Freunde. Sie kam abends immer später nach Hause. Wir vermuten, dass sie Alkohol trinkt und Drogen nimmt. Wie gesagt, sie ist früher auch schon von zu Hause weggelaufen, aber sie ist immer wiedergekommen! Nur diesmal ... diesmal nicht. Warum? Warum ist sie nicht zurückgekommen?« Von seinen Gefühlen überwältigt, schlägt er die Hände vors Gesicht. Es ist bedrückend, einen erwachsenen Mann weinen zu sehen, trotzdem widerstehe ich dem Drang, den Blick abzuwenden. Dies sind die Momente, in denen man sieht, ob jemand aufrichtig ist oder nicht. Falsche Tränen sind leicht zu erkennen, wenn man also weint, sollte man ehrlich dabei sein. Und das ist er. Dieser Mann leidet.

Lynn starrt Everett eine Zeitlang an, dann richtet sie das Wort wieder an mich. Keine tröstende Hand auf seiner Schulter, kein »Ist ja gut, Liebling«. »Wir haben auf ihrem Computer ihren Suchverlauf gefunden. Obwohl sie wusste, dass wir dagegen sind, hat sie im Netz nach ihren leiblichen Eltern gesucht. Über eine dieser ... wie nennt man die noch gleich?«

Sie sieht mich an, als müsste ich die Antwort wissen. Ich zucke mit den Schultern.

Lynn verzieht keine Miene. »Eine dieser Seiten, auf denen adoptierte Kinder mit ihren leiblichen Eltern zusammengeführt werden. Wir hoffen für Bonnie, dass sie keinen Kontakt zu Ihnen aufgenommen hat, aber falls sie es getan haben sollte ...«

Everett hat lange gebraucht, um sich zu fangen. Nun maßregelt er Lynn mit einem verärgerten Blick. »Bitte entschuldigen Sie meine Frau. Wir wollen einfach nur wissen, wo unsere Tochter ist.«

(Continues…)



Excerpted from "Untiefen"
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